Süddeutsche Zeitung

Drogentherapie:Fixer hilft Fixer

Lesezeit: 4 min

Von Berit Uhlmann

Der Mann lag am Kanalufer, das Gesicht blau angelaufen, der Atem fast nicht mehr spürbar. Zwei Männer versuchen ihm Luft in die Lungen zu pressen, so gut es eben geht. Es geht nicht sehr gut. Und so ist es ein Glücksfall, dass ein Passant sofort erfasst, was zu tun ist. Er sticht eine Nadel in den Oberarm des Bewusstlosen, drückt langsam den Kolben hinunter. Da setzt der Atem ein, zitternd und dankbar richtet sich der Hilflose auf. Wenig später treffen die Sanitäter ein: "Wow! Ihr habt jetzt Naloxon?"

Die Berliner Ärztin Kerstin Dettmer schilderte diese Szene 2001 im British Medical Journal. Denn was hier passiert war, war ein Novum: Ein Drogenkonsument hatte einen anderen aus der potenziell tödlichen Überdosis zurückgeholt, weil er mit dem Notfallmedikament Naloxon ausgerüstet war. Naloxon ist ein potentes Gegenmittel, das binnen Minuten die Atemnot beheben kann, die nach übergroßen Mengen von Heroin oder anderen Opioiden droht. Mediziner spritzen es seit den 1970er-Jahren. Aber es Drogenabhängigen zur Behandlung Drogenabhängiger aushändigen? Hieße das nicht, den Fixer zum Arzt zu machen? Das war eine Idee, die im besten Fall ungewöhnlich, im schlimmsten Fall absurd erschien.

Kerstin Dettmer allerdings hielt den Ansatz von Anfang an für einleuchtend. Sie wusste, dass die gefährliche Überdosierung eher selten in der einsamen Bahnhofstoilette passiert, sondern oft inmitten von Familienmitgliedern, Freunden oder Angehörigen der eng vernetzten Drogenszene. Sie hatte gehört, dass diese Menschen im Notfall immer wieder versuchten zu helfen - irgendwie, mit verzweifelten, bisweilen unsinnigen Aktionen. Da wurde Kochsalz gespritzt, der Bewusstlose geschüttelt oder unter die kalte Dusche geschleppt. Das alles begleitet von Gefühlen der Panik und der Überforderung.

Als das Bundesforschungsministerium 1998 ein Modellprojekt zur Naloxon-Abgabe in der Drogenszene initiierte, übernahm Dettmer also die ärztliche Leitung. Sie stellte sich an das Kottbusser Tor, den Bahnhof Zoo, ging in Einrichtungen, die Süchtige häufig aufsuchen. Sie warb um Vertrauen, klärte auf, lernte die richtigen Wörter zu benutzen: "Erste-Hilfe-Kurs klang nicht besonders attraktiv." Insgesamt verschrieb sie mehr als 260 Berliner Abhängigen Naloxon, das unter die Haut oder über einen Aufsatz in die Nase gespritzt werden kann. Es war einer der ersten beiden wissenschaftlich begleiteten Versuche der Welt und er zeigte, dass die Idee funktionieren kann. 105-mal wurde das Antidot im Laufe von vier Jahren eingesetzt, alle Empfänger überlebten. Unerwünschte Wirkungen stellte die Ärztin nicht fest.

Das Mittel ist hocheffektiv und sicher. Auch wenn es von Laien verabreicht wird

Seither ist weltweit einiges passiert. Noch immer fehlen große randomisierte Versuche, doch etliche Beobachtungsstudien veranlassten die Drogenbehörde der Vereinten Nationen UNODC zu der Einschätzung: Naloxon in der Hand von Laien "ist hocheffektiv und sicher; es hat keine signifikanten Nebenwirkungen und kein Missbrauchspotenzial". Die Europäische Drogenbeobachtungsstelle EMCDDA erklärt, dass die Abgabe des Mittels die Zahl der tödlichen Überdosen senken kann. Die WHO empfiehlt längst, dass Menschen, die mit hoher Wahrscheinlichkeit Zeugen einer Überdosis werden, Zugang zu Naloxon bekommen. Die USA, Kanada, Australien und mindestens zehn europäische Länder folgten dieser Empfehlung - zum Teil in großem Umfang.

Für Kerstin Dettmer aber, die Pionierarbeit geleistet hat, ist die Situation seltsam unverändert. Sie arbeitet weiterhin in der Berliner Drogenhilfe und ist noch immer eine von sehr wenigen Ärzten in Deutschland, die das Mittel verordnen - und das auch nur "auf niedrigem Niveau", denn schon lange bekommt sie kein Geld mehr für Werbung und Aufklärung.

Mit diesen Worten lässt sich die Gesamtsituation in Deutschland umreißen. Nach Berlin haben noch einige weitere Städte Pilotprojekte aufgelegt, mit viel Glück lief die Verschreibung des Medikaments danach auf Sparflamme weiter. In München ist es dem Suchthilfeverein Condrobs gelungen, in den vergangenen zwei Jahren Naloxon an etwa 90 Abhängige abzugeben. Mitte des Jahres soll die Initiative in ein bayerisches Modellprojekt überführt werden, das noch einmal wissenschaftlich evaluieren will, was der Laien-Einsatz überhaupt bringt. Dabei wissen alle Beteiligten, dass keine weiteren Modellversuche nötig sind. Selbst die Bundesregierung räumte dies im vergangenen Jahr auf Anfrage der Linkspartei ein. Aus ihrer Antwort spricht wenig Enthusiasmus, dafür werden die Risiken mehrfach hervorgehoben.

Tatsächlich hat Naloxon eine Tücke. Es blockiert die Opioid-Rezeptoren und verhindert so, dass das im Körper zirkulierende Heroin an ihnen andockt. Das kann Konsumenten innerhalb kurzer Zeit in den Entzug treiben, sagt Andreas Schaper, Leiter des Giftinformationszentrums-Nord in Göttingen: "Eben noch haben sie kaum geatmet, dann sind sie hellwach", so der Mediziner, der das Mittel selbst schon oft eingesetzt hat. Die Betroffenen können aggressiv werden oder sich eine weitere Dosis des Rauschgifts spritzen, was das Problem noch verschärft. Denn Naloxon verdrängt das Heroin nur etwa 60 bis 90 Minuten lang. Danach kann es erneut die Atmung lähmen. Wer Naloxon erhält, sollte deshalb immer ärztlich überwacht werden.

Das müssen Laien wissen, bevor sie das Notfall-Set mit der Spritze ausgehändigt bekommen. Doch Experten sind sich einig, dass das Risiko mit einer Schulung in den Griff zu bekommen ist. "Wir schulen etwa 90 Minuten lang", sagt Olaf Ostermann vom Münchner Verein Condrobs. Theoretisch würde viel weniger Zeit genügen: "Man kann nicht viel falsch machen. Der einzige Fehler ist, nicht den Notarzt zu rufen." Wird Naloxon ohne Notwendigkeit angewendet, passiert nichts. Auch die Befürchtung, das Notfallmittel könnte zu größerer Sorglosigkeit im Umgang mit Drogen führen, hat sich nicht bestätigt. Sie ist auch nicht plausibel: "Naloxon kann den Konsumenten in den Entzug bringen; den aber will niemand erleben", sagt der Sozialpädagoge Ostermann.

Dennoch hält die Skepsis an. "Wohl nicht so sehr gegen das Medikament, sondern gegenüber der Zielgruppe", vermutet Ostermann. Kerstin Dettmer sagt: "Offen oder unausgesprochen herrscht die Haltung vor, dass man Drogenkonsumenten nicht so viel Verantwortung geben sollte." Doch ihre Erfahrung zeige, dass sie motiviert und verantwortungsbewusst sind. "Überdosen sind ein zentrales Thema in der Szene." Und nicht nur da: Die Zahl der Drogentoten steigt in Deutschland seit einigen Jahren wieder an. 1333 Menschen sind 2016 am Konsum illegaler Drogen gestorben. Bei dem Großteil war ein Opioid mitverantwortlich.

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SZ vom 06.02.2018
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