Drogensucht:Tod aus dem Pflaster

Drogensucht: Fentanyl dient manchen Süchtigen als Heroin-Ersatz.

Fentanyl dient manchen Süchtigen als Heroin-Ersatz.

(Foto: Brendan Smialowski/AFP)

Die Drogenszene hat eine ungewöhnlich gefährliche Praxis entwickelt: Süchtige kochen Schmerzpflaster aus und spritzen sich den Sud. Weil das Opioid zu leichtfertig verschrieben wird, nimmt der Missbrauch zu.

Von Berit Uhlmann

Der Patient kommt kurz vor Ende der Sprechstunde. Er klagt über Rückenschmerzen und den unglücklichen Umstand, dass sein Arzt im Urlaub sei und ihm das gewohnte Rezept nicht ausstellen könne. Den Beweis seiner Misere hält er in der Hand: Eine Packung Schmerzpflaster, komplett leer, leider. Vor Patienten mit solchen Wünschen werden niedergelassene Ärzte in Bayern derzeit gewarnt.

In den Praxen von Hausärzten und Orthopäden verlangen Drogenabhängige ein Präparat, das auf den ersten Blick sicher erscheint: Fentanyl, ein Opioid, das nur so langsam aus dem Pflaster freigesetzt wird, dass es zum Drogen-High nicht taugt. Doch die Drogenszene ist erfinderisch. Einige zerkauen die Pflaster, um den Wirkstoff über die Mundschleimhaut schnell in die Blutbahn zu befördern; die meisten aber schneiden die Umhüllung auf, kochen das Opioid heraus und injizieren sich den Sud. In der Szene kursieren Kochrezepte und der Hinweis, dass die Methode auch mit gebrauchten Pflastern funktioniert. Längst werden Pflaster aus dem Müll von Altenheimen und Kliniken gehandelt.

Es ist eine ungewöhnlich gefährliche Praxis. Die Pflaster enthalten zwischen 1,4 und 35 Milligramm Fentanyl, das mindestens 80-mal stärker als Morphin ist. Bis zu 70 Prozent können selbst in tagelang gebrauchten Präparaten noch enthalten sein. "Wie viel sich durch das Kochen herauslöst, ist nicht zu kalkulieren. Das hängt vom Hersteller, dem Fabrikat, der Art und Dauer der Extraktionsmethode ab", sagt Beate Erbas, Medizinerin der Bayerischen Akademie für Sucht- und Gesundheitsfragen. Damit schwemmen sich die Abhängigen ein Rauschgift in den Körper, dessen Dosis sie nicht mal annähernd abschätzen können.

Bei jedem dritten Drogentod in Bayern war Fentanyl beteiligt

Die Folgen sehen bayerische Ermittler seit 2008. Damals zählten die Behörden in der landesweiten Drogenszene 16 Todesfälle, bei denen Fentanyl zumindest beteiligt war. In den vergangenen drei Jahren hatten etwa 30 Prozent aller Drogentoten den Stoff im Blut, 69 waren es pro Jahr in Bayern. Diese Tragödien sind auch in der Szene bekannt. Trotzdem hatte jeder zweite Klient, den Münchner Drogenhilfeeinrichtungen befragten, schon einmal Fentanyl konsumiert.

Vieles an dieser Praxis ist schwer zu verstehen. So auch die Tatsache, dass sie bislang nur in Bayern in diesem Ausmaß dokumentiert wurde. "Wir wissen nicht sicher, ob es sich um ein regionales Phänomen handelt oder ob es in anderen Bundesländern möglicherweise noch nicht bemerkt wurde", sagt Erbas. Auch der Blick auf andere Staaten liefert mehr Fragen als Antworten. "Übersehen wir die Zeichen?", grübelten Forscher des European Monitoring Centre for Drugs and Drug Addiction (EMCDDA), als sie vor Kurzem europaweite Zahlen zusammentrugen. In den meisten Ländern des Kontinents ist das Problem überschaubar, doch in Estland ist die Fentanyl-Sucht endemisch.

In den USA warnte die Drogenbehörde DEA vor Kurzem vor einer "alarmierenden Rate" an Fentanyl-Überdosen. Das Gesundheitsamt in Baltimore sprach von einem Gesundheitsnotfall, nachdem im ersten Quartal des Jahres bereits 39 Menschen an Fentanyl-Vergiftungen gestorben waren.

Fentanyl als Heroin-Ersatz

Dort, wie in Estland, stammt der Stoff aus illegaler Produktion. Deutsche Süchtige beziehen ihr Fentanyl hingegen aus ursprünglich legalen Quellen. Beruhigend ist das nicht. Die Beliebtheit in der Drogenszene resultiert weniger aus der Rauschwirkung des Medikaments. Dem "Turn" fehle die Euphorie, beschrieben die Münchner Konsumenten ihre Erfahrungen. Die Verbreitung ist eher der Marktsituation geschuldet: Fentanyl ist leicht verfügbar und vergleichsweise billig. Typische Konsumenten sind Junkies, die mit dem Arzneimittel Engpässe in der Heroinversorgung kompensieren.

Ist die Straßendroge aus der Mohnpflanze knapp oder gerade teuer, beginnen Abhängige und Händler ihre Tour durch die Praxen; 18 Arztbesuche in Folge sind dokumentiert. Die Süchtigen haben auf ihrer Suche nach dem nächsten Schuss entdeckt, was auch Epidemiologen aus den Abrechnungen der Kassen herauslesen: Fentanyl gerät oft zu leichtfertig auf den Rezeptblock.

Würde die Verschreibung des Mittels erschwert, könnten Kranke darunter leiden

Der Stoff aus dem Pflaster ist in Deutschland das am häufigsten verschriebene starke Opioid. Die Verordnungen haben ein Niveau erreicht wie in keinem anderen Land in Europa. Drei Milligramm pro Kopf und Jahr sind es nach Zahlen der EMCDDA - mehr als doppelt so viel wie in Frankreich und mehr als sechsmal so viel wie in Großbritannien. "Die Pflaster gelten als einfach zu applizierende und moderne Arzneiform", sagt Edeltraut Garbe, Pharmakologin und Epidemiologin am Leibniz-Institut für Präventionsforschung und Epidemiologie. "Der Trend ist sicher auch durch den Preisverfall begünstigt. Fentanyl-Pflaster gibt es seit etwa zehn Jahren generisch, inzwischen sind sie ähnlich günstig wie entsprechende Morphinpräparate."

Garbe hat, wie auch andere Wissenschaftler, dokumentiert, dass nicht nur die Menge, sondern auch der Einsatz der Pflaster von internationalen Empfehlungen abweicht. Fentanyl ist eigentlich die Ultima Ratio der Schmerzbekämpfung. Doch Auswertungen von deutschen Krankenkassendaten zeigen, dass Ärzte häufig gleich die potente Waffe abfeuern: Für jeden vierten Fentanyl-Patienten war das Pflaster das erste rezeptpflichtige Schmerzmittel überhaupt, für fast 85 Prozent das erste Opioid. Jeder zweite Patient erhielt es nur einmal, höchstwahrscheinlich um akute Schmerzen zu lindern. Dafür sind die Pflaster jedoch nicht geeignet; denn sie erreichen ihre Wirkung erst nach zwölf bis 24 Stunden.

Das ist mehr als Nachlässigkeit. Fentanyl ist eben nicht das Trostpflaster für die Oma, die es im Rücken zwickt, und es ist längst nicht so gut steuerbar, wie Patienten offenbar vermuten. Kranke, die noch nie Opioide erhalten haben, können selbst durch geringe Mengen Fentanyl starke Nebenwirkungen erleiden: Wahrnehmung und Bewusstsein können getrübt sein; der Atem sich bis zum Stillstand abschwächen. In diesem Fall hilft auch das schnelle Abziehen des Pflasters nicht mehr viel. Denn der Wirkstoff sickert in die Haut ein und wird von dort über die Dauer von 24 Stunden freigesetzt. Immer wieder haben versehentliche Überdosierungen zu Todesfällen geführt. Kinder, die Pflaster in die Hände bekamen, sind verunglückt. Nun kommt der Missbrauch hinzu.

Warnungen gibt es - mehr aber auch nicht. Experten scheuen drastischere Maßnahmen, denn es gibt eben auch die andere Seite: Chronisch Kranke und Sterbende könnten weniger leicht Fentanyl erhalten, wenn die Regeln zur Therapiekontrolle oder Rücknahme der Pflaster verschärft würden. "Die Versorgung der Patienten sollte nicht unter den Missbrauchsfällen leiden", sagt Suchtexpertin Erbas.

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