Die letzten Pockenviren:Aufschub für einen Killer

Die letzten Pockenviren: Pockenviren unter dem Elektronenmikroskop. Soweit Forscher wissen, gibt es sie nirgendwo mehr in freier Natur.

Pockenviren unter dem Elektronenmikroskop. Soweit Forscher wissen, gibt es sie nirgendwo mehr in freier Natur.

Noch immer lagern die letzten Pockenviren in zwei Laboren. Die Debatte, ob sie vernichtet oder weiter für die Forschung benötigt werden, dauert inzwischen länger als die Ausrottung der Krankheit. Dahinter steht die Frage: Wie wahrscheinlich ist es, dass diese oder eine verwandte Seuche noch einmal auftaucht?

Von Berit Uhlmann

Unvernunft hatte dem Virus noch einmal die Tür geöffnet. Im Herbst 1977 fand der Pockenerreger in Somalia sein offiziell letztes Opfer. Der 23-jährige hatte mitgeholfen, seine Landsleute gegen die Infektionskrankheit zu impfen, ehe er in einem Krankenhaus als Koch anheuerte. Niemand hatte damit gerechnet, dass dieser Mann keinen Impfschutz haben könnte. Doch plötzlich erkrankte der Koch vor den Augen des Krankenhauspersonals. Am Ende hatte er Glück: Sein Immunsystem bekämpfte das Virus erfolgreich und markierte den Sieg über die Krankheit, die die Menschheit jahrtausendelang heimgesucht hatte.

Von dem Kampf bleiben heute nur Trophäen des Sieges: In Russland und den USA lagern noch Proben der Viren in Hochsicherheitslaboren. Mehr als ein Jahrzehnt lang hatte dort niemand mehr Verwendung für sie. Doch als Mitte der 1990er Jahre gefordert wurde, diese letzten Viren wie ursprünglich geplant zu vernichten, begann ein zäher Streit, der mittlerweile länger währt als einst das Programm zur Ausrottung der Krankheit.

In dieser Woche diskutiert die Weltgesundheitsorganisation WHO erneut über das Schicksal der Variola-Viren genannten Erreger. Zwei verschiedene Expertengruppen, eine von der WHO und eine unabhängige, erklärten im Vorfeld, dass die Viren im Prinzip nicht mehr benötigt werden. Sie machten geltend, dass die zwischenzeitlich angezogene Forschung die Menschheit besser gegen die Krankheit gerüstet habe, als sie es je war.

Es gibt neue und empfindlichere Labortests, neue und sicherere Impfstoffe, und zwei Medikamente - die ersten überhaupt - sind weit entwickelt. Noch sind sie nicht zugelassen, so dass die WHO-Expertengruppe die Forschung in diesem Bereich auch weiterhin als sinnvoll ansieht. Dafür könnten die tiefgekühlten Viren noch nützlich sein. Doch sonst? Was soll man an der ausgerotteten Krankheit noch erforschen?

Grundsätzliches, lautet die Antwort der amerikanischen Seuchenbehörde CDC, die einen Teil der Viren in ihren Labors verwahrt. Inger Damon, bei der CDC zuständig für die Pockenforschung, will nicht nur die bisherige wissenschaftliche Arbeit fortführen, sondern sie auf neue Fragestellungen ausweiten, die auch jenseits der Sorge vor Bioterrorismus eine Bedeutung haben. Vor allem darauf, warum die Variola-Viren sich so gut an den Menschen angepasst hatten, dass er ihr einziger Wirt war. Welcher Mechanismus hinter dieser Spezialisierung steckt und ob andere Erreger den Trick auch lernen könnten, ist ungeklärt.

Die ausgerotteten Variola-Viren sind nur die bekanntesten Mitglieder einer ganzen Familie von Pockenerregern. Affen- und Kuhpocken grassieren noch immer unter Tieren und können auch Menschen infizieren. "Tatsächlich gibt es sogar Hinweise darauf, dass diese Infektionen beim Menschen zunehmen", sagt der Virologe Gerd Sutter von der Münchner Universität, der dem unabhängigen Beratergremium zur Zukunft der Viren angehört.

In der Demokratischen Republik Kongo sind Ende der 2000-er Jahre etwa 20-mal so viele Menschen an den Affenpocken erkrankt wie 30 Jahre zuvor, schätzte ein internationales Forscherteam. Kaum einer der Infizierten hatte je eine Pockenimpfung erhalten. Die Immunisierung, bis vor 30 Jahren Standard, schützte auch vor anderen Pockenerregern. Seit immer mehr Menschen ohne diesen Schutz aufwachsen, haben diese Viren leichteres Spiel.

Affen- und Kuhpocken bekommen Besitzer von ihren Haustieren

Die Globalisierung eröffnet den Erregern ungeahnte Verbreitungswege. 2003 erkrankten mehr als 70 US-Amerikaner an den Affenpocken. Sie hatten sich bei ihren Haustieren angesteckt, Präriehunden, die sich ihrerseits im Tierhandel an Riesenhamsterratten aus Ghana infiziert hatten. Anders als der Name erwarten lässt, werden die Affenpocken überwiegend von Nagetieren übertragen.

Ähnliches gilt für die Kuhpocken. So genannte Schmuseratten schleppten die Krankheit vor fünf Jahren in mehrere deutsche Kinderzimmer ein. Die Liste der unerwarteten Entwicklungen lässt sich fortsetzen: 2009 wurde in Indien ein erster Fall von Kamelpocken festgestellt, die bis dahin als harmlos für den Menschen galten. Und erst vor wenigen Tagen fand man bei Rinderhirten in Georgien ein bislang unbekanntes Pockenvirus.

"Die von Tieren stammenden Pockenerreger rufen längst nicht so schwere Verläufe hervor wie die Menschenpocken", sagt Sutter. "Doch prinzipiell muss man bei Viren immer mit Veränderungen rechnen." Vieles spreche dafür, dass die Variola-Viren sich aus einer der tierischen Varianten entwickelt hatten; theoretisch könnte etwas ähnliches auch noch einmal passieren.

"Es ist nicht auszuschließen, dass sich die bei Tieren auftretenden Viren irgendwann besser an den Menschen anpassen", sagt auch Andreas Nitsche vom Robert Koch-Institut in Berlin. Er ist der Vertreter Deutschlands in dem WHO-Gremium, das über die weitere Verwendung der Variola-Viren abstimmt. "Würden sie pathogener und damit für mehr Menschen gefährlich, wäre dieses Geschehen schwerer erforschbar, wenn das virulenteste Virus der Gruppe, die Menschenpocken, nicht mehr zur Verfügung stünde."

Doch rechtfertigt die theoretische Gefahr die weitere Forschung an den Variola-Viren? Und wäre diese Forschung überhaupt Erfolg versprechend? "Es können nur wenige Wissenschaftler Experimente mit den schwer bewachten Viren durchführen", gibt Sutter zu bedenken. Donald Henderson, der das WHO-Programm zur Ausrottung der Krankheit leitete, verweist darauf, dass auch mit Tiererregern Grundlagenforschung betrieben werden kann.

Zudem bleibt das Risiko, dass die Erreger doch irgendwie aus dem Laboren entweichen. Zwar sagen die Forscher einhellig: "Die Labore sind sicher" Und doch zeigt ein Blick in die Geschichte, dass von Laboren eine Gefahr ausgehen kann. Ein Jahr nach dem letzten Pockenfall in Somalia schlug das Virus ein allerletztes Mal zu. In einem britischen Labor, das mit den Erregern experimentierte, entwich es über einen Versorgungsschacht und infizierte eine junge Frau im darüber gelegenen Stockwerk. Sie starb einen Monat danach. Prüfer hatten das Labor zuvor als nicht sicher genug eingestuft - und die Arbeit mit den tödlichen Keimen dennoch gestattet.

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