Diagnose ADHS:Vorschnell abgestempelt

Ist ein Schulkind unaufmerksam und zappelig, wird schnell die Diagnose ADHS gestellt. Doch das vermeintlich behandlungsbedürftige Verhalten könnte einen banalen Grund haben.

Christina Berndt

Die Jüngsten einer Schulklasse bekommen am häufigsten den Stempel Zappelphilipp aufgedrückt. Eine Studie in Kanada hat gezeigt, dass Kinder, die bei der Einschulung gerade erst schulpflichtig geworden sind, fast eineinhalbmal so oft Medikamente gegen das Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Syndrom ADHS verschrieben bekommen, wie ältere Klassenkameraden.

Die Forscher haben Daten von elf Jahrgängen mit fast einer Million Schulkindern ausgewertet ( Canadian Medical Association Journal, online). "Offenbar werden weniger reife Kinder häufiger ADHS-Kinder genannt", sagt der Erstautor Richard Morrow von der University of British Columbia. "Es ist aber wichtig, Kinder nicht den Gefahren von unnötigen Diagnosen und Medikamenten auszusetzen."

Die Mittel gegen ADHS könnten sich negativ auf Schlaf und Wachstum auswirken und das Risiko für Herzprobleme heraufsetzen. Würde die Situation in Deutschland untersucht, ergäbe sich wohl ein ähnlicher Zusammenhang zwischen ADHS-Diagnose und relativem Alter im Klassenverband, befürchtet der Psychologe Manfred Döpfner von der Universität Köln, Mitautor der Leitlinien zur Behandlung des ADHS.

Konzentrationsunfähigkeit, Unruhe und Impulsivität, die Merkmale des ADHS, seien nun einmal stark altersabhängig. "Lehrer und Ärzte sollten daher bei der Beurteilung von Kindern deren genaues Alter im Bewusstsein haben", empfiehlt Döpfner.

Die psychosoziale Entwicklung von ADHS-Kindern sei verzögert, ergänzt der Forchheimer Kinderarzt Klaus Skrodzki, ebenfalls Mitautor der Leitlinien; das bleibe oft bis ins Teenageralter so. Diese Kinder sollten daher keinesfalls zu früh eingeschult werden.

Durch eine frühe Einschulung aber drohe sicher kein ADHS. "Kinder, die leistungsbereit und sozial ausreichend entwickelt sind, können ruhig auch schon vor dem sechsten Geburtstag zur Schule gehen."

© SZ vom 06.03.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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