SZ-Gesundheitsforum:"Die Zeit war nie besser, um Diabetes zu bekommen"

SZ-Gesundheitsforum: Je früher Kinder an die Techniken zur Blutzuckerkontrolle herangeführt werden, desto selbstverständlicher gehen sie damit um.

Je früher Kinder an die Techniken zur Blutzuckerkontrolle herangeführt werden, desto selbstverständlicher gehen sie damit um.

(Foto: Alla Rudenko/Imago/Panthermedia)

Beim SZ-Gesundheitsforum informierten Expertinnen und Experten über den Stand von Diagnostik, Behandlung und Prävention von Typ-1-Diabetes.

Von Christina Berndt

Früher war es oft schrecklich, wenn Dominik Ewald einen Diabetes-Verdacht bei einem seiner kleinen Patienten hatte. Dann kamen aufgeregte Eltern mit einem Kind in seine Praxis in Regensburg, dem es gar nicht gut ging. "Dem Kind war übel, es musste sich erbrechen, oft war bereits das Bewusstsein beeinträchtigt, weil der Blutzuckerspiegel so hoch war", erzählte der Vorstand im Landesverband Bayern des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte während eines SZ-Gesundheitsforums zum "Thema Kinder und Diabetes - wie eine gute Behandlung gelingt". Hektisch wurde dann der Blutzucker gemessen, das Kind später womöglich ins Krankenhaus eingeliefert, wo es eilig eine Therapie mit Insulin bekam. "Das war ein dramatisches, oft traumatisches Erlebnis für Eltern und Kind", so Ewald.

Seit ein paar Jahren hat sich die Situation geändert. Seit 2015 untersucht der Kinder- und Jugendarzt im Rahmen einer Forschungsstudie schon während der U-Untersuchungen im Grundschulalter bei all seinen Patienten, ob bei ihnen ein Diabetes vom Typ 1 im Anmarsch ist. Bei dieser Variante der Zuckerkrankheit handelt es sich - anders als beim vornehmlich durch Übergewicht verursachten Typ 2 - um eine Autoimmunerkrankung, bei der das körpereigene Immunsystem die insulinproduzierenden Beta-Zellen in der Bauchspeicheldrüse nach und nach zerstört.

Jetzt ist der Panik-Faktor verschwunden - dem Screening zum Dank

Wenn im Rahmen einer solchen Untersuchung bestimmte Autoantikörper gefunden werden, sei das ein sicheres Zeichen für das Vorliegen eines Prä-Diabetes, sagte Anette-Gabriele Ziegler, Direktorin des Instituts für Diabetesforschung am Helmholtz-Zentrum München und Professorin an der TU München, während des SZ-Gesundheitsforums. Dieser Prä-Diabetes werde sich in den Folgejahren zum Diabetes entwickeln. Seit Dominik Ewald die Diagnose nicht erst bei akuter Überzuckerung stellt, sondern schon im Rahmen der Früherkennungsuntersuchung, ist der Panik-Faktor in seinem Behandlungszimmer jedenfalls verschwunden. "Man kann in Ruhe alles abklären, mit den Eltern reden und sie vorbereiten", sagte Ewald. Der Kinderarzt setzt sich deshalb für eine Ausweitung des Screenings ein, das bisher nur in wenigen Bundesländern - in Bayern, Sachsen und Niedersachsen - im Rahmen von Studien erfolgt.

Kritiker befürchten indes, dass das Screening auch negative Folgen haben könnte - etwa wenn falschpositive Ergebnisse Eltern und Kinder unnötigerweise beunruhigen. Diese Gefahr sei minimal, betonte Anette-Gabriele Ziegler. Bei den Tests werde sozusagen ein doppelter doppelter Boden verwendet. "Erst wenn zwei Blutproben desselben Patienten in zwei verschiedenen Untersuchungen anschlagen, wird vom Vorliegen eines Prä-Diabetes ausgegangen."

Der Nutzen des Screenings wird aus Sicht der Expertinnen und Experten beim SZ-Gesundheitsforum demnächst noch wachsen, wenn ein neues Medikament namens Teplizumab, das in den USA schon zugelassen wurde, auch in Deutschland auf den Markt kommt. Erhalte ein Patient nach dem Entdecken eines Prä-Diabetes durch Früherkennung 14 Tage lang täglich eine 30-minütige Infusion mit diesem Medikament, werde der Ausbruch des Diabetes um mindestens drei Jahre hinausgezögert, sagte die Diabetologin und Kinderärztin Olga Kordonouri, Ärztliche Direktorin des Kinderkrankenhauses "Auf der Bult" in Hannover, während des SZ-Forums. Das sei positiv, weil die Patienten gesunde Jahre geschenkt bekommen und schon älter und vernünftiger sind, wenn sie sich mit ihrem Blutzuckerspiegel beschäftigen müssen, so Kordonouri. Zudem werde das Risiko von Spätfolgen und Langzeitkomplikationen gesenkt, ergänzte Ziegler: "Durch die Früherkennung werden gefährliche Stoffwechselentgleisungen vermieden und die körpereigene Insulinproduktion länger erhalten, zudem kann die Therapie genau zum richtigen Zeitpunkt begonnen werden, und die Belastung in den Familien ist geringer." Das alles bedeute große Vorteile für die Patientinnen und Patienten.

Wie groß der Schock bei seiner Diagnose im Alter von 12 Jahren war, berichtete der Filmemacher Bastian Niemeier, der auf seinem Youtube-Kanal "Diabetes ohne Grenzen" über die Erkrankung und ihre Behandlungsmöglichkeiten informiert. Wenn er heute mit besorgten Eltern ins Gespräch kommt, deren Kind eine Diabetes-Diagnose erhalten hat, sagt er: "Die Zeit war nie besser, um Diabetes zu bekommen."

"Der Diabetes ist für mich stark in den Hintergrund gerückt"

Als Niemeier vor neun Jahren seine Diagnose erhielt, musste er noch sechs- bis achtmal täglich seinen Blutzucker messen. Mittlerweile trägt er ein "Automatic Insulin Delivery System", ein AID. Es besteht aus einem Zuckersensor im Oberarm und einer damit verbundenen Insulinpumpe, die über einen Katheter so viel Insulin in den Bauch spritzt, wie den Messwerten des Sensors zufolge gerade nötig ist. "Dieses System nimmt mir die Arbeit ab", sagte Niemeier. "Ich bekomme all fünf Minuten den Wert aufs Handy und kann etwas essen, falls es zur Unterzuckerung kommt." Allerdings müsse man dem System auch vertrauen, sagt er. "In die Insulingabe kann ich selbst nicht mehr so leicht eingreifen, ich übertrage dem System also einige Verantwortung."

Auch wenn Niemeier seine Diagnose damals ohne Vorwarnung erhalten hat: Mittlerweile hat er sich an seinen Diabetes gewöhnt. Die Krankheit schränkt ihn kaum noch ein. "Natürlich ist Typ-1-Diabetes eine Belastung, das will ich gar nicht schönreden", sagte er. "Aber man kann heute sehr gut mit der Erkrankung leben. Mit dem automatischen System ist der Diabetes für mich stark in den Hintergrund gerückt." Er bekomme oft gar nicht mit, wenn das System Insulin nachspritzen muss, weil er die Kalorien, die er zu sich nimmt, mal falsch eingeschätzt hat, zu wenig geschlafen hat oder zu viel Stress hat.

Die Technik sei ein Segen, sagte die Diabetologin und Kinderärztin Olga Kordonouri. Die ersten Systeme dieser Art seien schon ab dem Alter von einem Jahr zugelassen, Gewebesensoren zur Zuckermessung sogar schon ab Geburt. "Kinder wachsen da hinein", sagte sie, "und je jünger ein Kind ist, desto schneller lernt es damit umzugehen."

Dass die Technik in Zukunft noch weiter voranschreitet und immer zuverlässiger und feiner werde, davon ist Olga Kordonouri überzeugt. Auch würden immer bessere Insuline entwickelt - etwa solche, die schneller wirken.

In Zukunft lässt sich Diabetes vielleicht sogar heilen

Junge Patienten von heute würden eines Tages womöglich sogar gar kein Insulin mehr brauchen, sagte Anette-Gabriele Ziegler - entweder weil das Hinausschieben der Krankheit durch neue Medikamente immer weiter möglich wird. Oder weil der Diabetes womöglich sogar rückgängig gemacht werden könne, selbst wenn er schon ausgebrochen ist. So versuchen Wissenschaftler, Patienten frische Beta-Zellen zu transplantieren, damit diese die zerstörten Zellen ersetzen und Insulin produzieren. "Bislang ist das schwierig, weil die transplantierten Zellen sofort wieder vom Immunsystem des Patienten zerstört werden. Aber es wird daran gearbeitet, sie so zu verpacken, damit das Immunsystem sie nicht erkennen kann, oder mit Signalen zu versehen, sodass das Immunsystem unterdrückt wird."

In Studien untersucht Ziegler zudem weitere Methoden, den Ausbruch von Diabetes zu verhindern. So versucht sie, Kinder gegen Diabetes zu hyposensibilisieren - ähnlich wie bei Allergien. "Wir geben Kindern Insulin als Pulver zum Essen, um das Immunsystem tolerant gegenüber dem Hormon zu machen", berichtete Ziegler. Sie hofft, dass die zerstörerischen Autoimmunprozesse gegen die Beta-Zellen dann gar nicht erst beginnen. In einer weiteren Studie verabreicht sie Neugeborenen ein Probiotikum, um Diabetes zu verhindern. "Wir wissen, dass Darmbakterien bei Kindern, die Diabetes haben, in den ersten Lebensjahren anders zusammengesetzt sind, das erhöht womöglich die Disposition." Die Ergebnisse ihrer Studien erwartet sie erst für die kommenden Jahre. Zur Prophylaxe könne man Eltern bisher nur empfehlen, den Vitamin-D-Spiegel ihrer Kinder im Auge zu behalten. "Die Spiegel dieses Vitamins sind bei den betroffenen Kindern auffällig niedrig", sagte Ziegler. Dies sei auch von anderen Autoimmunerkrankungen bekannt.

Insgesamt blickten die Expertinnen und Experten beim SZ-Gesundheitsforum hoffnungsvoll in die Zukunft. Auch wenn gerade immer mehr Kinder erkranken: Die Zeit war eben nie besser, um Diabetes zu bekommen. Und sie wird in Zukunft wahrscheinlich nur noch besser werden.

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