So dringend wie im Moment wurde ein Medikament gegen Diabetes Typ-1 bei Kindern noch nie benötigt. Allein in Deutschland erkranken 3700 Minderjährige jedes Jahr neu an der Zuckerkrankheit, weil ihr Immunsystem die Insulin bildenden Zellen in ihrer Bauchspeicheldrüse zerstört. In der Regel müssen sie sich für den Rest des Lebens das Hormon, das den Blutzuckerspiegel reguliert, per Spritze zuführen. Und jedes Jahr steigt die Rate der neu erkrankten Kinder. Weiter verschärft wurde das Problem während der Pandemie. Zwischen Anfang 2020 und Mitte 2021 ist die Zahl der frischen Diagnosen aus bisher unbekannten Gründen noch einmal um 15 Prozent nach oben geschossen.
Die Ursache der Krankheit ist eine Autoimmunreaktion, das Immunsystem richtet sich dabei gegen den eigenen Körper. Das Leiden trifft dafür genetisch besonders anfällige Kinder, beispielsweise weil sie Eltern mit einem Diabetes-Typ-1 haben. Bisher sind alle Versuche gescheitert, medikamentös den Ausbruch der Krankheit zu verhindern.
In den USA steht nun erstmals ein Arzneimittel zur Verfügung, das dazu in der Lage ist - zumindest vorübergehend. Ende vergangener Woche hat die Arzneimittelbehörde FDA das Medikament Teplizumab zugelassen. Das ist ein Antikörper, der sich gegen bestimmte Abwehrzellen, sogenannte T-Lymphozyten, richtet und auf diese Weise eine Art Neustart im Immunsystem auslöst. Wenn der Körper in den Wochen nach der Medikamentengabe die zerstörten T-Zellen wieder nachbildet, erhöht sich die Zahl derjenigen Lymphozyten, die Autoimmunreaktionen unterdrücken und damit auch die Attacke auf die Insulin produzierenden Zellen in der Bauchspeicheldrüse.
Die Zulassung könnte den Beginn einer neuen Ära markieren.
Laut einer Studie in der Fachzeitschrift New England Journal of Medicine gelingt es auf diese Weise zwar nicht, das Ausbrechen der Krankheit vollständig zu verhindern; das Medikament schafft es aber, den Begin im Schnitt um zwei Jahre hinauszuzögern. Für Anette-Gabriele Ziegler, die Direktorin des Instituts für Diabetesforschung am Helmholtz Zentrum München, ist die Zulassung des Teplizumab deshalb "ein absoluter Meilenstein" in der Behandlung des Typ-1-Diabetes . "Zum ersten Mal steht damit ein Medikament zu Verfügung, das bereits im Frühstadium der Krankheit wirkt."
Medizingeschichte:Der unbekannte Entdecker des Insulins
Kinder mit Diabetes mussten bis vor 100 Jahren oft ihr Leben lang hungern - viele überlebten die Krankheit nicht. Dann feierten kanadische Wissenschaftler den Durchbruch der Insulintherapie. Was kaum jemand weiß: Ein deutscher Arzt hatte das Hormon längst Patienten in Berlin gespritzt.
Als "Beginn einer neuen Ära" bezeichnet sie die Zulassung, weil sie davon ausgeht, dass sich mit diesem oder ähnlichen Ansätzen vielleicht noch mehr bewirken lässt. Probiert wird aktuell zum Beispiel, das Immunsystem später noch ein weiteres Mal zu resetten und dadurch den Ausbruch der Krankheit noch weiter hinauszuschieben - mit Teplizumab, oder auch mit anderen, ähnlich wirkenden Medikamenten. "Ein weiterer Schritt wird zudem sein, die Antikörper bei noch jüngeren Kindern einzusetzen", sagt die Diabetologin. Zugelassen ist das Teplizumab in den USA für Kinder ab acht Jahren. Erste Anzeichen der Autoimmunreaktion sind aber oft bereits im Alter von ein oder zwei Jahren zu entdecken. Ziegler erwartet, "dass wir bei einer Therapie von jüngeren Kindern noch größere Effekte sehen werden".
Schwere Nebenwirkungen sind laut der Zulassungsstudie bislang nicht aufgetreten: Das vorübergehende Schwinden der Lymphozyten hatte nicht zu einer Zunahme von Infektionen mit Krankheitserregern geführt. Jeder dritte Behandelte litt unter einem vorübergehenden Hautauschlag.
Früherkennungsprogramme wären notwendig
Mit einer Zulassung des Medikaments in Europa wird nicht vor Ende kommenden Jahres gerechnet. Doch bereits jetzt lässt sich sagen, sie würde das Gesundheitssystem vor neue Herausforderungen stellen: Zum einen ist das Mittel sehr teuer. Die amerikanische Tageszeitung New York Times berichtet, dass die 14-tägige Infusionstherapie umgerechnet fast 190 000 Euro kosten wird.
Außerdem macht es Früherkennungsprogramme notwendig, um die Kinder, die die Behandlung benötigen, rechtzeitig zu entdecken. In Großbritannien wird zum Beispiel jedes vierte Kind mit Diabetes Typ 1 erst diagnostiziert, wenn es mit schweren Komplikationen in eine Klinik eingeliefert wird. Das ist eindeutig zu spät. Auch aus diesem Grund hat Anette-Gabriele Ziegler zusammen mit anderen Wissenschaftlern in Bayern, Niedersachsen und Sachsen ein Diabetes-Typ-1 -Screeningprogramm etabliert. Dabei handelt es sich um einen Antikörper-Test im Rahmen der regulären Vorsorge-Untersuchungen bei Kindern. Bislang wird das aus aus Forschungsmitteln finanziert. "Das müsste dann", fordert die Diabetes-Expertin, "in Zukunft von den Krankenkassen übernommen und allen Kindern angeboten werden".