Diabetes-Früherkennung:Forscher wollen 100 000 bayerische Kinder auf Diabetes testen

Insulin gegen Diabetes

Spritzen und Blutzuckermessen gehört bei Diabetikern dazu. Auch bei gesunden Kindern testen Forscher auf die Zuckerkrankheit. Ihre Prognosen sind präzise.

(Foto: Jens Kalaene/dpa)
  • Forscher des Projekts "Fr1da" möchten mindestens 100 000 Kinder aus Bayern auf eine mögliche Veranlagung zu Typ-1-Diabetes testen.
  • Experten äußern ethische Bedenken: Bislang sei der Nutzen der Untersuchung unklar.

Von Kathrin Zinkant

Es ist nur ein Pieks. Ein paar Tropfen Blut quellen aus dem Finger, werden aufgesogen, dann ist für die Kleinen das Schlimmste schon vorbei - sie können wieder spielen. Das Blut dagegen geht auf Reisen, zum Institut für Diabetesforschung am Helmholtz-Zentrum in München. Dort wird es auf Spuren der Zerstörung getestet: Vier Autoantikörper suchen die Wissenschaftler im Blut der Kinder. Das sind Waffen des Immunsystems, die sich gegen ein falsches, weil körpereigenes Ziel richten.

In diesem Fall gegen die Bauchspeicheldrüse, oder genauer: gegen jene Zellen des Organs, die das überlebenswichtige Hormon Insulin produzieren, die sogenannten Inselzellen. Finden die Forscher die gesuchten Autoantikörper, machen sie einen zweiten Test, um die Diagnose zu bestätigen. Die heißt dann "Prädiabetes". Die Kinder sind also noch nicht krank, werden aber im späteren Leben an einer schweren, insulinpflichtigen Zuckerkrankheit leiden.

Der Test ist Teil eines Projekts, Fr1da genannt - für Früherkennung von Typ-1-Diabetes. Fr1da ist beispiellos in der Pädiatrie. Auch, weil es auf große Unterstützung von Medizinern trifft. Mehr als die Hälfte der Kinderärzte in Bayern und 14 000 Familien mit Klein- und Vorschulkindern haben seit November bereits an Fr1da teilgenommen. Die Forscher unter der Leitung der Institutsdirektorin am Helmholtz-Zentrum, Anette-Gabriele Ziegler, haben aber noch einen weiten Weg vor sich: Aus der Altersgruppe zwischen zwei und fünf Jahren sollen möglichst noch mehr Kinder in Bayern teilnehmen. Möglichst alle. Mindestens aber 100 000, so lautet das Ziel. Vor Kurzem haben sie das nochmals mit einer großen Presseaktion bekräftigt.

Der vorgebliche Zweck von Fr1da klingt zunächst einleuchtend: Die Forscher wollen den Kindern ersparen, von der Krankheit und möglichen Komplikationen überrascht zu werden. Mitunter wird die Diagnose tatsächlich erst auf der Intensivstation gestellt. Epidemiologen haben zudem gezeigt, dass die gefährliche Zuckerkrankheit vom "jugendlichen" Typ 1 insbesondere bei Kleinkindern in Deutschland immer häufiger auftritt. Etwa drei von 1000 Zwei- bis Fünfjährigen sind betroffen, das bestätigt auch die erste Auswertung der Fr1da-Studie, und die Rate nimmt nachweislich weiter zu.

Typ-1-Diabetes ist bislang nicht heilbar. Er muss ein Leben lang mit Insulin behandelt werden

Dabei unterscheidet sich der Typ-1-Diabetes ganz grundlegend vom häufigeren Typ-2-Diabetes, landläufig "Alterszucker" genannt: Beim juvenilen Typ 1 werden die insulinproduzierenden Zellen der Bauchspeicheldrüse vollständig zerstört, es ist kein Insulin mehr da. Beim Typ-2-Diabetes wird noch Insulin produziert, doch stumpfen die Körperzellen der Patienten gegenüber dem Hormon ab. Man sagt: Sie werden resistent. Dieser "Alterszucker" wird angesichts einer zunehmenden Zahl dicker Kinder zwar auch in jungen Jahren häufiger. Allerdings lässt er sich durch Diäten, Sport und Ernährungsumstellung teilweise oder sogar ganz beheben.

Typ-1-Diabetes ist bislang nicht heilbar und muss lebenslang mit Insulin und einer sorgfältigen Ernährung kontrolliert werden - sobald er ausbricht. Meistens fallen die Kinder dabei durch großen Durst auf, und weil sie Gewicht verlieren, obwohl sie genug essen. In etwa jedem fünften Fall jedoch wird die Krankheit erst entdeckt, wenn die Patienten eine akute diabetische Ketoazidose entwickeln, und bei etwa jedem 20. dieser Fälle verläuft sie schwer.

Eine Ketoazidose entsteht, wenn der Blutzucker unbemerkt über längere Zeit ansteigt und der Stoffwechsel deshalb auf Notversorgung umschaltet. Die Produkte dieses Ausnahmezustands, sogenannte Ketonkörper, lassen das Blut versauern. Die typischen Symptome der Ketoazidose entwickeln sich dann binnen 24 Stunden: Übelkeit, Durst, häufiges Wasserlassen und Bauchweh sind die ersten Zeichen. Später hyperventilieren die Kinder, der Körper dehydriert, das Herz rast. In bis zu einem Prozent der Fälle kommt es zu einem Hirnödem, das zu einer Behinderung führen oder sogar tödlich enden kann.

Vor allem die schwereren Verläufe, die sechs Prozent der 2000 jungen Neudiabetiker jährlich in Deutschland treffen, soll Fr1da verhindern helfen. Ob die Studie das auch kann, wissen die Forscher jetzt, nach den ersten Tests, noch nicht. Es wird viele Jahre dauern, diesen möglichen Nutzen zu bestätigen. Ziegler aber zählt darauf, dass Eltern und Kinder, die auf die Krankheit vorbereitet sind, es gar nicht erst zu einer solchen Entgleisung des Stoffwechsels kommen lassen. "Wir wollen, dass die Kinder mit einem Sicherheitsgurt in eine Krankheit fahren, die ab einem gewissen Punkt lebensgefährlich werden kann", sagt die Helmholtz-Forscherin. Kinder, deren Diabetes vor einer Ketoazidose erkannt würde, seien auch langfristig besser eingestellt, hätten also stabilere Blutzuckerwerte und bräuchten auch weniger Insulin, versichert die Forscherin.

Es kann 15 Jahre oder noch länger dauern, bis der Diabetes tatsächlich ausbricht

So weit die medizinische Theorie. Was aber haben die kleinen Prädiabetiker tatsächlich davon, wenn sie und ihre Eltern so früh mit einer mehr oder weniger fernen Zukunft konfrontiert sind? "Wenn die Früherkennung einer Krankheit einen Sinn ergeben soll, müssen drei Voraussetzungen erfüllt sein", kritisiert Andreas Neu, Kinderdiabetologe am Universitätsklinikum in Tübingen und Gründer des bundesweit größten Kinderdiabetes-Registers in Baden-Württemberg. "Die Krankheit muss häufig sein, es muss einen sicheren Test geben - und man muss die therapeutische Möglichkeit haben, etwas gegen die Krankheit zu unternehmen."

Doch während der erste Punkt beim Diabetes-Screening für Kleinkinder außer Frage steht - mindestens drei von 1000 Kindern erkranken eines Tages am Typ-1-Diabetes - ist bereits der zweite Punkt unsicher. Der Nachweis der Autoantikörper gilt zwar inzwischen als zuverlässiger Hinweis darauf, dass sich Diabetes manifestieren wird. Das haben Langzeitstudien an mehr als 13 000 Kindern gezeigt. Dieselben Studien zeigen aber auch: Der Test macht keine Aussage darüber, wann das Kind krank werden wird. Mehr als die Hälfte der Jungen und Mädchen ist auch fünf Jahre, nachdem Antikörper erstmals im Blut nachgewiesen werden, noch immer symptomfrei und hat einen völlig normalen Blutzucker. Gut 15 Prozent der Kinder erkranken mindestens 15 Jahre nach diesem Zeitpunkt. Aus den Kleinkindern sind dann längst Erwachsene geworden.

Was tun mit der Diagnose?

Für Andreas Neu fangen hier die ethischen Probleme an: "Selbst wenn ich weiß, dass ich diese Krankheit irgendwann sicher bekomme - will ich dieses Wissen Jahre oder sogar Jahrzehnte lang mit mir herumtragen?" Hier berührt das Diabetes-Screening ähnliche ethische Konflikte, wie sie in anderen Bereichen der Medizin auftreten, etwa der Früherkennung von Krebs. Die Hoffnung, der Krankheit mit dem Wissen um sie mehr entgegensetzen zu können als ohne, ist groß. Doch aus Sicht der Kinder kann die Frage durchaus lauten, ob sie ohne den steten Gedanken an ihren künftigen Diabetes womöglich unbeschwerter aufwachsen würden. Zumal es noch den dritten Punkt gibt: die Möglichkeit des Handelns. Die Existenz einer Therapie. Und hier gilt: Eine solche gibt es derzeit nicht.

Forscher arbeiten seit vielen Jahren und mit großem Einsatz daran, ein Medikament oder eine Immuntherapie zu entwickeln, um die Zerstörung der Insulin produzierenden Zellen zu stoppen. "Ich bin überzeugt, dass wir den Prozess irgendwann aufhalten können", sagt Diabetesforscherin Ziegler. Sie selbst leitet ein Projekt mit diesem Ziel. Es handelt sich um eine Art Hyposensibilisierung, wie sie gegen Allergien angewendet wird. Dabei wird gesunden Kindern Insulinpulver verabreicht, wenn sie noch keinen Diabetes und auch noch keinen Prädiabetes entwickelt haben, aber dafür ein hohes genetisches Risiko für die Erkrankung haben. Weil es geschluckt wird, wirkt das Hormon nicht auf den Blutzucker. Die Einnahme ist ungefährlich. Der stete Kontakt des Körpers mit dem oralen Insulin soll aber die Körperabwehr an dieses entscheidende Hormon gewöhnen und den Angriff auf die Inselzellen der Bauchspeicheldrüse verhindern.

Ziegler hat das Konzept in einer Pilotstudie an 25 Kindern getestet, von denen 15 das Insulinpulver bekamen. Bei neun der Probanden kam es zu einer möglicherweise schützenden Immunantwort (JAMA, Bd. 313, S. 1541). Ob die Kinder deshalb vor Diabetes gefeit sind oder ob sie jemals an Diabetes erkrankt wären, ist aber aus diesen Daten nicht ersichtlich.

Die Schwäche der frühen Diagnose bleibt: Ärzte können die Krankheit nicht aufhalten

Die Möglichkeit des Handelns bleibt also der klare Schwachpunkt der Diabetesfrüherkennung. Die Fachgesellschaften werden in den demnächst aktualisierten Leitlinien zum Diabetes bei Kindern erneut von einer Früherkennung der Krankheit abraten. "Alle Studien, in denen versucht wurde, den Ausbruch der Krankheit zu stoppen oder aufzuhalten, sind bislang gescheitert. Weder eine gesunde Ernährung noch Sport, noch irgendein Medikament hilft", sagt Neu. Warum sollte man die Familien mit etwas belasten, gegen das sie nichts ausrichten können?

Es gibt womöglich einen Grund, der weniger mit Patientenversorgung zu tun hat als mit wissenschaftlichem Erkenntnisgewinn. So schreibt Ziegler in einem aktuellen Meinungsbeitrag des Fachblatts Current Opinions in Endocrinology, ein Screening würde eine "Risikopopulation" identifizieren, an der sich dann der Krankheitsverlauf studieren lasse. Geht es also darum, Probanden zu finden, um die Entstehung der Krankheit genau zu beobachten? Es gäbe vieles zu ergründen, zum Beispiel, welche Umweltfaktoren Einfluss auf den Beginn der vorwiegend erblich bedingten Krankheit nehmen. Viele Familien würden sich womöglich allein für dieses Ziel zur Verfügung stellen - auch wenn kein unmittelbarer Nutzen für ihre Kinder in Aussicht ist. Bislang allerdings ist die Studie noch weit entfernt davon, die 100 000 Teilnehmer zu rekrutieren, die man sich zum Ziel gesetzt hat.

Den Eltern der bislang diagnostizierten 49 Fr1da-Kinder bleibt derweil, sich über die kommende Krankheit schlauzumachen - und abzuwarten. Ob die halbjährlichen Tests von Insulinspiegel und Blutzucker bei ihren Kleinen eine Ketoazidose verhindern werden, kann derzeit niemand sagen, auch wenn es einleuchtend erscheint. Ketoazidosen treten auch unter manifesten Diabetikern recht häufig auf, bei bis zu jedem zehnten. Sie sind also nicht ganz unvermeidlich.

Im Fall kleiner Kinder gilt es deshalb, frühe Zeichen deuten zu können - was auch ohne Screening machbar wäre, wie Andreas Neu anmerkt. "Eine Möglichkeit ist, die Eltern über die Symptome eines Diabetes aufzuklären. In Italien hat man das gemacht und konnte die Zahl der Ketoazidosen dramatisch reduzieren." Ganz fremd scheint der Gedanke auch den Beteiligten des Screenings nicht zu sein. Nicht nur Familien, die an Fr1da teilnehmen, sondern alle Eltern in Bayern sollen künftig ein Infoblatt bekommen. Damit sie informiert sind, über diese zunehmend häufig auftretende Krankheit. Und vorläufig ist das vielleicht auch genug.

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