Süddeutsche Zeitung

Universität Tübingen:Kommission sieht wissenschaftliches Fehlverhalten im Fall Birbaumer

  • Im April berichteten die Süddeutschen Zeitung und das SZ-Magazin über mögliches wissenschaftliches Fehlverhalten des Star-Forschers Niels Birbaumer.
  • Eine Untersuchungskommission ist nun "nach der Überprüfung einer Studie zu dem Ergebnis gekommen, dass Untersuchungsdaten in relevantem Umfang nicht ausgewertet beziehungsweise nicht berücksichtigt wurden".
  • Die Kommission hat dem Rektorat der Universität eine Reihe von Konsequenzen vorgeschlagen.

Von Felix Hütten und Till Krause

Eine Untersuchungskommission der Universität Tübingen hat ein wissenschaftliches Fehlverhalten des renommierten Hirnforschers Niels Birbaumer und seines Kollegen Ujwal Chaudhary festgestellt. In einer am Donnerstagmorgen veröffentlichten Stellungnahme heißt es, die Kommission sei "nach der Überprüfung einer im Fachmagazin PLOS Biology veröffentlichten Studie zu dem Ergebnis gekommen, dass Untersuchungsdaten in relevantem Umfang nicht ausgewertet beziehungsweise nicht berücksichtigt wurden." Dies bedeutet einen klaren Verstoß gegen wissenschaftliche Regeln.

Bereits im April berichteten die Süddeutschen Zeitung und das SZ-Magazin über Zweifel an der von der Tübinger Kommission nun untersuchten Studie.

Birbaumer gibt in der von ihm publizierten Studie an, mithilfe einer Gehirnkappe mit vollständig gelähmten ALS-Patienten in Form von Ja-Nein-Fragen kommunizieren zu können. Ein Tübinger Informatiker überprüfte die Daten und stieß dabei auf Fehler. Demnach liefere der Fachartikel aus dem Jahr 2017, anders als von den beteiligten Wissenschaftlern behauptet, keinerlei Evidenz dafür, dass die Kommunikation mit Patienten in einem sogenannten Completely-locked-in-Zustand (CLIS) möglich ist. Mehrere von SZ-Magazin und SZ befragte Experten bestätigen die Mängel der Studie.

Die Forscher sollen Daten "ohne klar definierte und nachprüfbare Kriterien" selektiert haben

Auch die Tübinger Kommission bestätigt nun diese Mängel und wirft Birbaumer und seinem Mitarbeiter eine "Reihe von Verstößen gegen die gute wissenschaftliche Praxis" vor. Demnach sollen die Forscher Daten "ohne klar definierte und nachprüfbare Kriterien" selektiert und Datensätze unberücksichtigt gelassen haben. Dies wertet die Kommission als eine "Verfälschung von Daten". Auch haben die Wissenschaftler entscheidende Informationen und Datensätze nicht offengelegt.

Die Kommission hat nun dem Rektorat der Universität eine Reihe von Konsequenzen vorgeschlagen. So sollten Birbaumer und sein Kollege die umstrittene Studie zurückziehen. Zudem sollten alle Publikationen, "an denen die beiden betroffenen Wissenschaftler seit 2014 mitgewirkt haben", durch externe Gutachter überprüft werden. Auch sei zu klären, ob Birbaumer den Status als Seniorprofessor der Universität Tübingen weiter behalten kann.

Inwieweit das Rektorat diesen Vorschlägen folgen wird, ist derzeit unklar. Man werde zeitnah entscheiden, sagte ein Pressesprecher der Universität - allerdings unter Einhaltung aller Regeln eines ordentlichen Verwaltungsverfahrens, das den betroffenen Wissenschaftlern die Möglichkeit einer Stellungnahme einräumt.

Die Folgen des Falls Patienten und ihre Angehörigen sind enorm

Schon jetzt aber will man in Tübingen aus dem Fall gelernt haben. "Wir werden künftig noch deutlicher kommunizieren, dass wir über ein klares Regelwerk verfügen, auf das jede Wissenschaftlerin und jeder Wissenschaftler zurückgreifen kann, sobald ein begründeter Verdacht auf wissenschaftliches Fehlverhalten vorliegt", sagt Bernd Engler, Rektor der Universität. Hinweisgeber, die sich an Vertrauenspersonen wenden, sollen zudem vor Repressalien geschützt werden.

Im aktuellen Fall um Niels Birbaumer hingegen hat es mehr als 18 Monate gedauert, bis das Fachjournal PLOS Biology die Entgegnung zu Birbaumers Publikation veröffentlichte. Ein dem SZ-Magazin vorliegender E-Mail-Wechsel zeigt, wie der Tübinger Informatiker, der Zweifel an der Studie hatte, bei Birbaumers Arbeitsgruppe anfangs Gehör fand, nach kurzer Zeit aber eine Abfuhr erhielt mit dem Hinweis, er verstehe von der Sache nichts. Auch PLOS Biology wehrte sich lange gegen die Veröffentlichung der Kritik.

Die Affäre ist unter anderem aufgrund der Prominenz des leitenden Wissenschaftlers brisant. Der 73-jährige Niels Birbaumer, der heute vorwiegend an einem von der Schweizer Wyss-Stiftung finanzierten Institut in Genf forscht, hat in vielen Bereichen der Psycho-Physiologie ausgezeichnete Wissenschaft betrieben.

Im Fall Birbaumer geht es nicht nur um Details einer fragwürdigen Publikation, sondern um enorme ethische Implikationen. ALS-Patienten, die davon ausgehen müssen, in einen Zustand der kompletten Isolation zu geraten, machen ihre Patientenverfügungen womöglich davon abhängig, ob sie im Zustand völliger Lähmung noch kommunizieren können. Angehörige dieser Patienten leben in der Hoffnung, mit ihren Verwandten kommunizieren zu können.

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Quelle:
SZ vom 07.06.2019/fehu
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