Wie rasant neue Konzepte und kulturelle Skripte für alte Beschwerden Karriere machen können, zeigte während der Tagung der gut besuchte Schwerpunkt zum Mikrobiom. Reizdarm, nervöser Magen und Colon irritabile klingen angestaubt, aber die Analyse der individuellen Keimbesiedlung eröffnet offenbar neue Perspektiven auf Beschwerden im Verdauungstrakt. Thomas Baghai aus Regensburg zeigte anschaulich, dass die Zusammensetzung des Mikrobioms eine wichtige Rolle sowohl für die Stressreaktion und die Depressionsneigung als auch für die Infektabwehr und sogar in der Hirnentwicklung spielt - beendete seine Ausführungen aber immer wieder damit, dass die Forscher noch nicht wüssten, was Unterschiede im Mikrobiom eigentlich bedeuteten.
Stefan Reber, der eine Abteilung mit dem schönen Titel "Molekulare Psychosomatik" am Uniklinikum Ulm leitet, ergänzte evolutionäre Aspekte. Demnach bieten lange bekannte Keime, die "alten Freunde", offenbar in Interaktion mit den Darmkeimen Schutz gegen Allergien und stressbedingte Erkrankungen. Neumodische Bakterien, also jene, die wohl erst mit der Sesshaftwerdung des Menschen aufgekommen sind, hätten diese Fähigkeiten nicht mehr. Was das zu bedeuten hat, konnte er allerdings auch nicht erklären.
Der Forschungs-Hype um das Mikrobiom ist zwar ungebrochen. Aber viel weiter ist man nicht
Es blieb dem Psychologen Paul Enck von der Uni Tübingen vorbehalten, gute Gründe anzuführen, die gegen das Mikrobiom als wichtigen Faktor in der Psychosomatik sprechen. Der Forschungs-Hype, der die Fachveröffentlichungen zum Thema von 63 im Jahr 2010 auf fast 4000 im Jahr 2018 hat ansteigen lassen, sei zwar ungebrochen. "Was ein gesundes Mikrobiom ist, kann aber keiner sagen, genauso wenig wie, was ein gestörtes ist", so Enck. "Am Ende bleibt die triviale Erkenntnis, dass ausgewogene Ernährung und ein gesunder Lebensstil nicht schaden können."
Der Bochumer Philosoph Albert Newen zeigte in seinem Festvortrag, wie Vorurteile und Fehlwahrnehmungen dazu beitragen, dass verzerrte Informationen große Verbreitung finden. Das gilt nicht nur für Leugner des Klimawandels, politische oder religiöse Fundamentalisten. Ähnliche Mechanismen treffen auch für die Muster zu, die mitbestimmen, wo es zwickt, wenn es tief drinnen furchtbar wehtut.