Schorsch sitzt neben dem Kassettenrekorder und ist ganz versunken in die Musik. Hin und wieder huscht ein Lächeln über sein Gesicht. Stundenlang hört er "Ernst Mosch und die Original Egerländer Musikanten". An diesen Moment kann sich der heute 66-jährige Gebhard Stein noch gut erinnern, auch nach fast 50 Jahren. Er lernt Schorsch im Januar 1972 bei seinem Ersatzdienst in den "Korker Anstalten" kennen.
Viele Jahre hatte Stein nicht mehr an seine Zeit als Zivi und die Begegnung mit Schorsch gedacht. Bis er Anfang 2015 im Radio einen Beitrag zu Medikamententests an Schweizer Heimkindern hört. In der Psychiatrischen Klinik Münsterlingen im Schweizer Kanton Thurgau wurden von 1950 bis Mitte der Siebzigerjahre an mindestens 1600 ahnungslosen Patienten Psychopharmaka getestet - auch an Heimkindern.
Plötzlich wird Gebhard Stein klar, dass so etwas auch im südbadischen Kork passiert sein könnte. Kurzerhand entschließt er sich, den Autor des Radiofeatures zu treffen und ihm die Geschichte von Schorsch zu erzählen. Das Gespräch setzt eine über dreijährigen Recherche in Gang, sie wird zu einem Tauchgang in die dunklen Kapitel der Medikamentenforschung in der Nachkriegszeit.
Die Ärzte dort diagnostizierten bei ihm einen "frühkindlichen Hirnschaden"
Der erst 20 Jahre alte Zivildienstleistende Gebhard Stein wird in Kork in der Abteilung "Männer 2" im Nachtdienst eingeteilt, bei dem er allein für etwa 80 Heimbewohner zuständig ist. Zu seinen Aufgaben gehört es auch, die Medikamente für den nächsten Tag zusammenzustellen. Dabei fällt ihm eine Arznei auf, die mit Buchstaben und Ziffern beschriftet ist, wobei er sich nach all den Jahren nicht mehr an die genaue Zeichenfolge erinnern kann, irgendetwas mit SH-08 ... Stein hakt damals bei den Assistenzärzten nach. Deren Antwort: Das sei eine Versuchspille gegen den Trieb. An mindestens drei Jugendlichen hat er die Substanz täglich verteilen müssen, erinnert sich Stein.
Einer dieser Jugendlichen ist Schorsch. Als Gebhard Stein ihm zum ersten Mal begegnet, ist er 14 Jahre alt, ein kräftiger Junge, aber mit auffallend großen Brüsten und einem breiten Becken. Der mittlerweile promovierte Sozialwissenschaftler Stein vermutet deshalb, dass der 14-Jährige das Versuchsmedikament schon längere Zeit vor seinem Dienstantritt im Januar 1972 bekommen hatte.
Schorsch hatte sein Heimatort auf der Schwäbischen Alb schon im Alter von elf Jahren verlassen. Der Hausarzt hatte empfohlen, ihn in den "Korker Anstalten" unterzubringen, einer evangelischen Behinderteneinrichtung in der Nähe von Straßburg. Schorsch lebt hier bis 1976 in der Abteilung "Männer 2". Die Ärzte dort diagnostizierten bei ihm einen "frühkindlichen Hirnschaden". Er bekommt häufig Krampfanfälle, leidet an einer "Epilepsie mit Grand-mal".
Seit 2010 ist Frank Stefan Vorstandsvorsitzender der "Diakonie Kork" mit heute etwa 1400 Beschäftigten. Der Pfarrer kann sich nicht vorstellen, dass hier Anfang der Siebzigerjahre Ärzte ein triebhemmendes Medikament an wehrlosen Menschen testeten. Aber aufklären könne man es auch nicht mehr, behauptet er, weil "es keine Akten mehr aus dieser Zeit gibt und die damals zuständigen Ärzte auch nicht mehr leben".
Der Wunsch nach Sex wurde tabuisiert
Frank Stefans Amtsvorgänger, der Theologe und Psychologie-Professor Joachim Walter, hält den Medikamentenversuch in Kork hingegen durchaus für möglich: "Ich weiß, dass die Schwestern triebhemmende Medikationen vor allem denjenigen gegeben haben, die einen größeren sexuellen Wunsch hatten." Als er 2002 seinen Dienst in Kork begann, sei das sexuelle Selbstbestimmungsrecht der Menschen mit Behinderungen noch in weiter Ferne gewesen. Der Wunsch nach Sex störte in diesen Einrichtungen und wurde tabuisiert. Auch in der Vorstellung vieler Eltern waren behinderte Jugendliche wie Kinder, die sicher keine sexuellen Fantasien hätten - ein großer Irrtum.
Der Arzt Volker Blankenburg bestätigt den Einsatz zugelassener triebhemmender Medikamente in Kork: "Da gab es zugelassene Psychopharmaka, hauptsächlich Neurocil und Haldol, die man da mal eben verabreicht hat." Man habe die Menschen damals vor sich selbst und auch die Mitbewohnerinnen schützen wollen. 1967 begann Blankenburg als "Medizinalassistent" in Kork, später leitete er die Epilepsieklinik für Erwachsene. Es liegen schriftliche Informationen aus dem Umfeld von Kork vor, die belegen: Volker Blankenburg war im Jahr 1976 an der Überweisung von Schorsch in die Psychiatrie beteiligt.
Detailreich erinnert er sich an den Klinikalltag. Schon frühmorgens, erzählt der Arzt, habe er an seinem Bürofenster fürchterliche Schreie gehört. "Einmal kam mir ein Betreuer entgegen, blutend, ihm wurde ein Stück Muskel von einem Heimbewohner rausgebissen. Manchmal musste ich die Patienten dann ans Bett fixieren und medikamentös beruhigen." Wenn es aber um die Versuchssubstanz geht, sagt Blankenburg: "Ich kenne dieses Medikament nicht."
Auf der Suche nach der Herkunft des Medikaments entsteht die Vermutung, dass das Kürzel SH für das Berliner Pharmaunternehmen Schering stehen könnte, das seit 2006 zur Bayer AG gehört. Die teilt auf Nachfrage allerdings mit, dass sich "nach umfangreicher interner Recherche in den Archiven der Schering AG ergeben hat, dass es nach derzeitigem Wissensstand keine Substanz oder Formulierung einer Substanz mit der Nummer SH-08714 gibt."
Doch stimmt das? Im internen Schriftverkehr unter Bayer-Mitarbeitern, der der SZ vorliegt, heißt es: "Ich habe die SH-Nr. von Cyproteronacetat gefunden." Am Ende entscheidet sich Bayer dennoch, die Information zurückzuhalten und schreibt an die beteiligten Mitarbeiter: "Die angefragte Substanz gibt es nicht und wir sollten die Antwort an den Journalisten zum jetzigen Zeitpunkt darauf beschränken."