Medizin:Lebensgefährliche Aussetzer bei Diabetes-Messgeräten

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Wenn der Blutzucker zu stark steigt, müssen Patienten schnell Insulin spritzen. (Foto: Matthias Hiekel/dpa)
  • Neuartige Messgeräte messen die Glukosekonzentration kontinuierlich im Gewebe. Ihr Marktanteil wächst rasant, es gibt bislang nur wenige Hersteller.
  • Zwei Apparate eines wichtigen Produzenten haben jedoch Fehlfunktionen, die für die Nutzer lebensbedrohliche Folgen haben können.
  • Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte fordert eine Nachrüstung der Geräte. Zwingen kann es den Hersteller aber nicht.

Von Astrid Viciano

Zunächst glaubte Mark Brunner den Versprechen. Zu verlockend war die Aussicht, endlich wieder durchzuschlafen, nach so vielen Jahren. Seit Brunner im Jahr 1995 von seinem Typ-1-Diabetes erfahren hatte, war er jede Nacht zweimal aufgestanden, um seinen Blutzucker zu kontrollieren. Aus Angst, nachts unbemerkt eine Unterzuckerung zu erleiden. "Das war wie eine Folter", erinnert sich der 46-Jährige heute.

Umso mehr freute sich Brunner, als er von neuen Glukosemessgeräten hörte. Sie schlagen automatisch Alarm, wenn die Messwerte zu weit nach unten oder oben ausschlagen. Dann piept oder brummt das Gerät und vibriert auf Wunsch - und erinnert die Nutzer daran, dass sie bald etwas essen oder sich Insulin spritzen müssen. "Endlich musste ich nachts nicht mehr aufstehen", sagt Brunner. Das glaubte er zumindest. "Alarme und Warnungen sind Ihr Sicherheitsnetz, das Sie vor starker Unter- oder Überzuckerung schützt", bewarb der Hersteller seine Geräte noch im Februar 2019 auf seiner deutschen Internetseite.

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Bald stellte Brunner jedoch fest, dass er sich auf sein Gerät nicht verlassen konnte. Sein Gerät war ein CGM-System "G4 Platinum" der Firma Dexcom, wobei CGM für kontinuierliche Glukosemessung steht. Brunner fand eine Fehlfunktion, die im schlimmsten Fall das Leben von Patienten mit Diabetes gefährden kann. "Ich kann nur hoffen, dass niemand Schaden genommen hat", sagt Brunner. Seit mehr als zwei Jahren kämpft er dafür, dass Dexcom den Fehler behebt oder wenigstens die Nutzer der Geräte davor warnt. Seine Erfahrungen machen nicht nur deutlich, wie zögerlich manche Hersteller auf technische Fehler ihrer Medizinprodukte reagieren. Sondern sie zeigen auch, wie schwerfällig deutsche Behörden im Umgang mit solchen Problemen sind. "Das ist ein Fehler im System", sagt Brunner.

Was Brunner entdeckt hat? Bei gleich zwei Gerätetypen kommt es manchmal zu einer stummen Fehlermeldung, dem Dexcom G4 Platinum und dem Dexcom G5 Mobile. Statt der aktuellen Glukosekonzentration im Gewebe erscheinen nur drei Fragezeichen in der rechten oberen Ecke des Bildschirms, bis zu drei Stunden lang. Das Problem dabei: Die Fehlermeldung bedeutet, dass das Gerät tatsächlich nicht misst. Falls in dieser Zeit eine Unterzuckerung auftritt, kann es also auch nicht warnen. Und es schlägt keinen Alarm, um den Nutzer über die Störung zu informieren. Schlafen die Patienten, merken sie nichts.

Nur wer zufällig auf den Bildschirm sieht, bemerkt den Ausfall und kann seinen Blutzucker mit einem Stich in die Fingerkuppe messen. Andernfalls können die Betroffenen bei schwerer Unterzuckerung Krampfanfälle erleiden oder schlimmstenfalls in ein diabetisches Koma gleiten. "Die Patienten sind gefährdet, die Kritik ist völlig berechtigt", sagt Michael Ritter, Leiter der Diabetologie und Endokrinologie am Helios-Klinikum Berlin-Buch.

Dabei geht es bei den Geräten nicht einfach um ein neues Gadget, sondern um eine der großen Neuerungen in der Diabetologie. "Die Qualität der Blutzucker-Einstellung hat sich dramatisch verbessert", erklärt Martin Füchtenbusch, Internist am Diabeteszentrum am Marienplatz und Mitglied der Forschergruppe Diabetes am Helmholtz-Zentrum München. "Wir sind stolz auf unsere G4- und G5-Geräte", schreibt auch Dexcom auf Anfrage der Süddeutschen Zeitung: "Sie haben das Leben vieler Patienten mit Diabetes verbessert."

Der Markt für die neuen, automatischen Messgeräte wächst rasant

Auch verweist der Hersteller auf eine Vielzahl wissenschaftlicher Publikationen zu seinen Produkten, unter anderem eine deutsche Studie. Sie ergab, dass Probanden mit den G4- oder G5-Geräten nur halb so oft schwere Unterzuckerungen erlitten wie jene ohne die Messgeräte in der Kontrollgruppe.

Normalerweise messen Typ-1-Diabetiker ihren Blutzucker ein paar Mal am Tag, vor dem Frühstück etwa und vor dem Mittagessen, vor dem Abendessen und vor dem Schlafen. So, als würden sie einzelne Fotos von ihrem Blutzuckerspiegel in 24 Stunden aufnehmen. "Mit den neuen Geräten haben wir keine Fotos mehr, sondern einen langen Film", sagt Michael Hummel, Leiter einer diabetologischen Schwerpunktpraxis in Rosenheim und stellvertretender Vorstand der Forschergruppe Diabetes. Denn die Apparate melden alle fünf Minuten die aktuelle Glukosekonzentration im Gewebe. "So können wir einen starken Anstieg des Blutzuckers nach den Mahlzeiten besser erkennen und sofort darauf reagieren", sagt Hummel.

Für Dexcom und die übrigen Unternehmen geht es um ihren Anteil an einem rasant wachsenden, weltweiten Markt. Nur wenige Hersteller bieten die CGM-Geräte bislang an. "Da herrscht eine unglaubliche Dynamik, mit einem Wettrennen um das erfolgreichste Produkt", berichtet der Diabetologe Füchtenbusch. Seit drei Jahren übernehmen die gesetzlichen Krankenkassen die Kosten der Geräte für Typ-1-Diabetiker und insulinpflichtige Patienten mit Typ 2, auch die besonders teuren Exemplare von Dexcom. Die Einkünfte des multinationalen Unternehmens stiegen 2018 im Vergleich zum Vorjahr weltweit um 44 Prozent, auf mehr als eine Milliarde Dollar.

Mark Brunner ist nicht nur Diabetes-Patient, er kennt auch den Konzern gut, denn er war dort Außendienstmitarbeiter, zunächst beim Vertriebspartner Nintamed, dann bei Dexcom selbst. In Berlin und Umgebung wies er Diabetes-Patienten in die Geräte ein. Im Dezember 2016 spricht er den damaligen Geschäftsführer der Firma erstmals auf die Sicherheitslücke an. Schriftlich erinnert Brunner am 9. Dezember nochmals an das Problem, wiederholt sein Anliegen elf Tage später. Ohne für ihn sichtbare Konsequenzen. Allerdings erhält Mark Brunner aus anderen Gründen zwei Abmahnungen, wird schließlich während eines Urlaubs im Jahr 2017 fristlos gekündigt - was später vor Gericht in eine fristgerechte Kündigung umgewandelt wird.

Im Mai 2018 wendet sich Brunner an das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM). Die Behörde ist unter anderem dafür zuständig, das Risiko von Medizinprodukten zu bewerten, wenn eine Meldung vorliegt. Drei Monate später erhält er im Auftrag von Dexcom ein Schreiben einer Münchner Anwaltskanzlei, die ihm unter anderem "falsche und verunglimpfende Äußerungen" vorwirft.

Im Januar 2019 reagiert das BfArM und berichtet Brunner von einer "Risikobewertung" der Dexcom-Geräte G4 und G5: Die Fehlermeldung ohne akustisches Warnsignal stelle eine "nicht akzeptable Gefährdung des Nutzers" dar. Besonders nachts sei die Gefahr schwerer Unterzuckerungen erhöht. Wie in der Korrespondenz des BfArM mit dem Hersteller zu lesen ist, will Dexcom diese Geräte trotzdem nicht nachzurüsten. Bei seinem neuen G6-Gerät ertöne jedoch 20 Minuten nach Auftreten der Fehlermeldung ein akustisches Signal, schreibt das Unternehmen.

Damit gibt sich das BfArM jedoch nicht zufrieden. "Wir sehen eine Designänderung der G4- und G5-Modelle als notwendig an", berichtet die Behörde. Allerdings kann das BfArM selbst die Firma dazu nicht zwingen. Allein die zuständige Landesbehörde kann Änderungen anmahnen, in diesem Fall das Staatliche Gewerbeaufsichtsamt in Hannover. "Meine Behörde ist der Empfehlung des BfArM gefolgt und hat Überwachungsmaßnahmen eingeleitet", berichtet Uwe Licht-Klagge, der zuständige Abteilungsleiter in Hannover.

Dexcom darf die G4- und G5-Modelle nicht mehr verkaufen

Was sie mit dem Hersteller vereinbart haben? Dexcom darf die G4- und G5-Modelle nicht mehr verkaufen und muss die in Gebrauch befindlichen Geräte bis Ende 2019 gegen die neuen G6-Modelle mit dem Alarm austauschen. Bis zum Austausch sollen die Anwender über die bestehende Sicherheitslücke informiert werden.

Tatsächlich hat Dexcom inzwischen Briefe an die Anwender der älteren Geräte verschickt. Darin kündigt das Unternehmen an, dass die Geräte der Generation G4 und G5 bis Ende 2019 gegen das neueste G6-Gerät ausgetauscht werden sollen, in einem Systemwechselprogramm. So sollen die Patienten von den "Vorteilen der neuesten Dexcom-Technologie profitieren", heißt es darin. Die Nutzer erfahren jedoch nichts von der Sicherheitslücke der älteren Geräte. Nur Patienten, die neue Sensoren und Transmitter für ihre Geräte brauchen, erhalten im Paket ein Infoblatt über die Fehlermeldung. Allerdings kommt so eine Lieferung in der Regel viermal im Jahr. Wer kein Paket erhält, erfährt nichts von der Sicherheitslücke. "Die Patienten werden auf kontinuierliche Weise informiert", erklärt dagegen Dexcom.

Auch die Berliner Diabetologin Elke Austenat hatte schon vor Monaten vor den Geräten G4 und G5 gewarnt und daraufhin mit Dexcom vereinbart, das neue G6-Modell in einem Praxistest auf mögliche Fehler zu prüfen. Ihr Studienprotokoll hat Austenat am 3. März 2019 an den Geschäftsführer von Dexcom geschickt. Dafür hatte sie 20 Patienten rekrutiert, nach Ostern sollte es losgehen, berichtet die Medizinerin. Nach vielen Nachfragen und Verzögerungen erhielt die Ärztin im Mai eine erstaunliche Nachricht: Der Praxistest könne in der geplanten Form leider nicht stattfinden - zunächst müsse die Studie am Firmenhauptsitz evaluiert werden.

© SZ vom 06.06.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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