Na, wird wohl in ein paar Tagen vorbei sein, dachte sich Adele Framer, als sie nach mehrjähriger Einnahme ihr Antidepressivum endlich absetzte: dieses Schwitzen und die elektrisch anfühlenden „brain zaps“ im Kopf, begleitet von einer gewissen Hypomanie. Da ahnte sie nicht, dass es ihr elf Jahre lang schlecht gehen würde. Sie hat darüber ausführlich berichtet, in Interviews und in Fachzeitschriften.
Das hatte sie nicht erwartet, als sie sich im Alter von 50 Jahren, in „exzellenter körperlicher Verfassung“, wie sie berichtet, Paroxetin verschreiben ließ, gegen den Stress an der Arbeit. Schon stutzig wurde sie, als erste Nebenwirkungen auftraten: sexuelle Funktionsstörungen, emotionale Abgestumpftheit, irgendwann dann Antriebslosigkeit. Aber die Ärzte sollten doch wissen, was sie tun, die Psychiater der University of California? Die wichtigste Einsicht Framers nach ihrer langjährigen Odyssee von Arzt zu Arzt, von Medikament zu Medikament: Sie wussten es nicht.
Vorweg: Die Geschichte von Adele Framer ist ein extremer und seltener Fall. Er rechtfertigt es nicht, auf Antidepressiva zu verzichten, die vielen Menschen helfen. Aber er weist auf dramatische Weise darauf hin, dass Antidepressiva keine sanften Glückspillen sind, die man einfach mal probieren sollte, wenn man schlecht drauf ist. Sie sind Medikamente, sie haben häufig unangenehme Nebenwirkungen, und sie bereiten regelmäßig auch Probleme beim Absetzen.
Adele Framer hat zumindest im englischen Sprachraum wesentlich dazu beigetragen, dass sich diese Einsicht auch in der klinischen Praxis ein wenig verbreitet hat. Vor allem dank der von ihr gegründeten Website SurvivingAntidepressants.org, auf der sich Betroffene austauschen und beraten lassen können. Eine diese Woche im Fachblatt Lancet Psychiatry veröffentlichte Metaanalyse eines Forscherteams um Christopher Baethge von der Universität Köln und Jonathan Henssler von der Charité Berlin zieht nun auch wissenschaftlich eine erste umfassende Bilanz. Sie beruht auf den Daten von 20 000 Personen aus 79 Studien.
Demnach leiden rund 31 Prozent aller Patienten zumindest vorübergehend unter gesundheitlichen Problemen, wenn sie Antidepressiva absetzen. Das ist weniger, als viele Experten erwartet hätten, zumal 17 Prozent der Studienteilnehmer auch unter Placebo Symptome zeigten. Experten diskutieren deshalb auch über methodische Fragen. Dabei ist vor allem ärgerlich, dass solche Zahlen erst jetzt vorliegen. Schließlich gehören Antidepressiva auch in Deutschland zu den am meisten verschriebenen und am besten untersuchten Medikamenten überhaupt, sie sind seit Jahrzehnten auf dem Markt. Frühe Berichte über Probleme beim Absetzen gab es bereits in den 60er-Jahren. Als erste solide Übersichtsarbeit gilt eine Studie einer Arbeitsgruppe um den Stanford-Psychiater Alan Schatzberg im Journal of Clinical Psychiatry aus dem Jahr 1997, in dem bereits alle typischen Symptome aufgeführt werden. „Eigentlich ein alter Hut“, sagt Alkomiet Hasan, Chefarzt der Psychiatrischen Klinik der Universität Augsburg, der auf Fachkongressen regelmäßig Fortbildungen zum Thema anbietet. „Doch in der ärztlichen Versorgung ist es immer noch viel zu wenig bekannt.“
Viele Ärzte wollten vermeiden, dass Antidepressiva wie Suchtmittel erscheinen
„Man wollte es halt nicht so recht wahrhaben“, sagt der Psychiater Tom Bschor, Mitautor der neuen Lancet-Studie und derzeit Leiter der Regierungskommission Krankenhäuser am Bundesministerium für Gesundheit. Viele Ärzte wollten auf Teufel komm raus vermeiden, dass Antidepressiva in den Verdacht geraten, sie könnten abhängig machen, wie ihnen von manchen Psychiatrie-Kritikern nach wie vor unterstellt wird. Viele Psychiater vermeiden immer noch den Begriff Entzugssymptom und reden lieber von Absetzsymptomen.
Dabei sind sich alle ernst zu nehmenden Experten einig, Befürworter wie Skeptiker, dass Antidepressiva nicht abhängig machen. Von einer Sucht ist der Definition der WHO zufolge erst die Rede, wenn Betroffene ihren Konsum nicht mehr kontrollieren können und steigern müssen, um die gleiche Wirkung zu erreichen. Wenn der Konsum dazu führt, dass andere Lebensinteressen vernachlässigt und schädliche Folgen ignoriert werden. Das alles ist bei Antidepressiva nicht der Fall. Allerdings ähneln die Absetzsymptome Entzugserscheinungen, wie man sie etwa von tatsächlich suchterzeugenden Schlafmitteln oder Benzodiazepinen her kennt.
„Mir ist es eigentlich egal, welches Wort man verwendet“, sagt schulterzuckend Tom Bschor, viel wichtiger sei in der Praxis die Abgrenzung zu einem Krankheitsrückfall, wie er nach dem Absetzen von Antidepressiva eben auch regelmäßig geschieht. Tatsächlich ähneln verbreitete Absetzsymptome denen einer Depression, etwa Müdigkeit, Appetitlosigkeit, gedrückte Stimmung und vieles mehr. Ärzte wie der Augsburger Psychiater Alkomiet Hasan empfehlen deshalb, sich an die in der Fachwelt verbreitete FINISH-Regel zu halten, welche in einer englischsprachigen Eselsbrücke die häufigsten Absetzsymptome aufführt. Das sind grippeähnliche Beschwerden (Flu-like Symptoms), Schlafstörungen (Insomnia), Übelkeit (Nausea), Gleichgewichtsstörungen (Imbalance), Missempfindungen (Sensory disturbances) sowie Reizbarkeit, Agitation und Ängstlichkeit (Hyperarousal).
Fast noch wichtiger zur Abgrenzung von Absetzsymptomen und Rückfall ist die zeitliche Dimension, so Hasan: „Probleme beim Absetzen von Antidepressiva treten fast immer schnell binnen der ersten Woche auf, meist mit einem Höhepunkt nach 36 bis 96 Stunden.“ Eine Depression kehrt dagegen meist erst nach Wochen zurück.
Dabei geht es nicht nur um die richtige Bezeichnung. Bei einem Rückfall, einem Wiederaufflammen der Depression, wird der Arzt in aller Regel wieder Medikamente verschreiben. So könnte ein Patient unnötigerweise über lange Zeit, manchmal Jahre, Antidepressiva nehmen, die häufig unangenehme Nebenwirkungen haben. Bei reinen Absetzsymptomen reicht es hingegen in aller Regel, sie schlicht zu ertragen oder symptomatisch zu behandeln, möglichst mit ärztlicher Begleitung.
„Ein typisches Problem sind Patienten, die ihre Behandlung einfach abbrechen, wenn sie ihre Medikamentenpackung aufgebraucht haben und das Medikament nicht mehr lieferbar ist“, warnt Hasan. Absetzsymptome lassen sich reduzieren oder ganz vermeiden, wenn das Medikament über Wochen oder Monate langsam ausgeschlichen wird, wobei die Dauer vor allem vom jeweiligen Wirkstoff abhängt; diese unterscheiden sich in ihren Abbauzeiten im menschlichen Körper. Keine große Rolle spielt hingegen der Zeitraum, über den das Antidepressivum eingenommen wurde. Absetzen kann problematisch werden, sobald ein Medikament länger als ein bis zwei Monate eingenommen wurde, danach steigt das Risiko nicht weiter.
„Diese Berichte muss man ernst nehmen, auch wenn sie wissenschaftlich schwer zu erklären sind.“
Besonders kritisch ist ausgerechnet die Phase ganz am Ende des Ausschleichens, in der aus Gründen der Körperchemie kleinste Dosisänderungen starke Effekte haben. Wer sich an ärztliche Ratschläge hält, wird dann in der Regel keine oder milde Probleme haben – und diese sind meist nach zwei bis sechs Wochen vorüber, abhängig vom Medikament. Sofern alles gut geht.
Es kann nämlich auch anders ausgehen. In seltenen Fällen, so wie es Adele Framer leidvoll erfahren hat, kommt es zu schweren Entzugssymptomen. Die neue Lancet-Studie schätzt deren Anteil auf immerhin 2,8 Prozent. Auch Tom Bschor kennt aus seiner klinischen Erfahrung solche Fälle, Menschen, die nach dem Absetzen Suizidgedanken haben, aggressiv werden, unter Sexualstörungen leiden. „Diese Berichte muss man ernst nehmen, auch wenn sie wissenschaftlich schwer zu erklären sind“, sagt Bschor. Solche Symptome seien schwer einzuschätzen, da sie sehr unspezifisch sind, sehr bunt. „Vielleicht suchen die Betroffenen auch nur eine Erklärung“, sagt Bschor.
Ihm erscheint eine andere Gefahr größer, das sogenannte Rebound-Phänomen, das er mit dem Bild eines Balles verdeutlicht, den man unter Wasser drückt: Lässt man ihn plötzlich los, springt er hoch über die Wasseroberfläche hinaus. Auf die gleiche Weise kann eine Depression nach dem Absetzen der Medikamente stärker als zuvor zurückkehren, „schnell, besonders heftig, schwer behandelbar“, sagt Bschor.
Medizin:Können Antidepressiva langfristig die Sexualität stören?
Keine Lust mehr oder Empfindungsstörungen in den Genitalien: Patienten klagen über anhaltende sexuelle Nebenwirkungen von Psychopharmaka. Was Experten sagen.
Leider weiß niemand, wie häufig dieses Phänomen vorkommt, belastbare Zahlen aus Studien gibt es nicht, eine beklagenswerte Forschungslücke. Die Einschätzungen der Experten unterscheiden sich. Ein bis drei solche Patienten pro Woche habe er früher als Leiter der psychiatrischen Abteilung der Schlossparkklinik in Berlin auf der Station erlebt, bei 20 bis 30 Aufnahmen insgesamt, sagt Bschor. „Ein erhebliches Problem, es macht mir Sorgen.“ Etwas gelassener sieht es Alkomiet Hasan: „Kein so großes Problem.“
Dennoch können sich beide darauf einigen, dass man aus den Erkenntnissen zur Absetzproblematik Folgerungen ziehen sollte. Hausärzte und auch Psychiater sollten ihre Patienten besser aufklären und den medizinischen Leitlinien folgen, nach denen Antidepressiva bei schweren Depressionen unverzichtbar sind, bei leichten bis mittelschweren Depressionen aber so zurückhaltend wie möglich verschrieben werden sollten. Bei denen bleibe ihr Effekt ohnehin überschaubar.
„Wobei es die schlechtere Alternative wäre, stattdessen süchtig machende Schlafmittel oder Benzodiazepine zu verschreiben“, warnt Hasan. Und, klar: Einen Psychotherapie-Platz findet nicht jeder auf die Schnelle. Bschor empfiehlt daher die „niedrigschwelligen Kardinalmaßnahmen“, wie Ärzte sie nennen: Schlafen nur in der dunklen Zeit, Pflichten erledigen, eine positive Aktivität am Tag, Sport und Bewegung. Ansonsten hofft er auf die Zukunft: „Wir brauchen einfach bessere Medikamente zur Behandlung der Depression.“