Süddeutsche Zeitung

Demenz:Demenzkranke dürfen nicht als medizinische Versuchsobjekte missbraucht werden

Ein geplantes Gesetz will Medikamententests an dementen Menschen erlauben. Das war lange Zeit undenkbar - und das sollte es auch bleiben.

Kommentar von Kim Björn Becker

Wer die Diagnose Demenz bekommt, ist nicht bloß unheilbar krank. Er wird mit der Zeit auch unfähig, sich und die Umwelt richtig wahrzunehmen. Alzheimerpatienten mutieren für ihre Angehörigen nicht selten zu Fremden, denn die Krankheit verändert die Persönlichkeit. Das unterscheidet die Demenz zum Beispiel von Krebs. Und es ist der Grund, warum der Plan der Bundesregierung nicht nur falsch, sondern geradezu gefährlich ist: Der Bundestag berät in diesen Tagen ein Gesetz, das Demenzkranke unter bestimmten Voraussetzungen zu Teilnehmern an medizinischen Experimenten machen würde, die ihnen selbst keinen Nutzen bringen - sondern nur einer größeren Gruppe von Patienten mit gleicher Diagnose. Anders als bei Studien, die dem Probanden einen individuellen Nutzen in Aussicht stellen, trägt der Teilnehmer hier nur das Risiko. Es ist ein unfaires Spiel, es profitieren nur andere.

Solche Experimente sind ethisch problematisch, selbst wenn es nicht um Verwirrte geht, sondern um geistig Gesunde. Als die sogenannte gruppennützige Forschung an Minderjährigen 2004 zugelassen wurde, ist aus guten Gründen viel über die Würde des Menschen gestritten worden: Er dürfe nicht zum Objekt der Pharmaindustrie degradiert werden, rügten die Kritiker, auch nicht durch die eigenen Eltern.

An ihnen zu forschen galt als Tabu

Am Ende ließ man es durchgehen, als einzige aller denkbaren Ausnahmen - weil Eltern besonders gut darüber wachen, was mit ihren Kindern geschieht. Die rote Linie wurde bei erwachsenen Personen gezogen, die ihren eigenen Willen krankheitsbedingt nicht mehr selbst äußern können. An ihnen zu forschen, ohne dass diese selbst davon einen Vorteil haben, galt als Tabu. Selbst, wenn ein gesetzlicher Vertreter dem zustimmen sollte.

Die Geschichte zeigt, wie schnell so ein Tabu zerbröseln kann. Nach knapp zwölf Jahren hat es sich fast schon in Staub verwandelt. In manchen Teilen der Gesellschaft wird nun wie selbstverständlich darüber gesprochen, dass Demenzkranke und andere, die nicht "in der Lage sind, Wesen, Bedeutung und Tragweite der klinischen Prüfung zu erkennen und ihren Willen hiernach auszurichten", wie es im Gesetzentwurf heißt, an Experimenten teilnehmen sollen. Dabei ist es die Pflicht einer Gesellschaft, jene Menschen zu beschützen, die sich nicht selbst beschützen können.

Das geplante Gesetz, über das sich die Gesundheitspolitiker der Koalition am Montag abschließend verständigen wollen, führt nicht dazu, dass auf die Verwirrten besser achtgegeben wird. Im Gegenteil, sie werden in einem ersten Schritt auf ihre Rolle als Forschungsobjekte reduziert. Es ist ein langsamer, schleichender Prozess. Doch man nimmt ihnen damit am Ende die Würde, das ist eine Schande.

In dieser Welt wären die Verwirrten nur noch gut genug als Probanden für unbekannte Chemikalien

Nun ist es gewiss nicht die Absicht der Befürworter des Gesetzes, diesen Menschen bewusst zu schaden. Das zu behaupten wäre schäbig, da der Entwurf hohe Hürden für die Teilnahme von Alzheimer-Patienten an gruppennützigen Studien vorsieht. Doch diese Hürden könnten ihr Ziel verfehlen, sie stehen auf wackligen Füßen. Stattdessen verschiebt die geplante Regelung das Tabu.

Vor zwölf Jahren war es noch undenkbar, dass einmal über solche Arzneimitteltests an Demenzkranken nachgedacht wird. Das war einmal. Wenn das Gesetz so in Kraft tritt, wird man in zwölf Jahren vielleicht darüber sprechen, ob es in Ordnung ist, wenn man an ihnen auch Arzneien ausprobiert, die mit Demenz gar nichts zu tun haben. In dieser Welt wären die Verwirrten nur noch gut genug als Probanden für unbekannte Chemikalien. Wenn das Gesetz so in Kraft tritt, dann rückt diese Welt ein Stück näher.

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Quelle:
SZ vom 04.06.2016/fehu
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