William Flint war durchtrainiert, intelligent und technisch bestens gerüstet. Wenn er in die Berge Kaliforniens radelte, dann musste das Smartphone immer mit. Besonders wichtig: die App "Strava". Wie das Cockpit eines Jets erkennt das Programm alle wichtigen Parameter körperlicher Aktivität. Es stoppt Zeiten, misst Entfernungen sowie Höhenverläufe, und am wichtigsten: Es stürzt den Anwender in einen Wettbewerb mit anderen Nutzern. Auch Flint. Ein Konkurrent hatte ihm die Bestzeit und den Titel "König der Berge" abgejagt, den wollte er sich wiederholen. Etwa 60 Kilometer pro Stunde zeigte der Tacho auf dem Smartphone zuletzt an - bevor der 41-Jährige tödlich verunglückte.
Der Fall ist sicher ein Extrembeispiel jener Besessenheit, das eigene Leben messbar zu machen. Doch gelernt wurde daraus nichts. Mittlerweile befördern alle großen Konzerne wie Apple, Google und Microsoft die Datenobsession mit dem eigenen Körper: Zähle die Schritte, die du täglich gehst. Miss die Qualität deines Schlafs. Durchleuchte dein Erbgut auf Krankheiten, die vielleicht in 50 Jahren auftreten (oder vielleicht auch nicht). Kaum eine Woche vergeht, in der die Giganten nicht einen neuen "Moonshot", ein neues großes Ding ankündigen: "Wir lassen Nanopartikel den Körper nach Krebszellen durchsuchen!" - "Wir finden die genetische Ursache von Autismus!" - "Speicherplatz für Erbgut in der Cloud!" Das Versprechen ist stets dasselbe: Je genauer man seinen Körper vermisst, trackt, analysiert, umso fitter und gesünder wird man - und am Ende auch glücklicher.
Solche Versprechen gehören zum Grundnarrativ des Silicon Valley - kein technisches Problem, das der richtige Algorithmus nicht beseitigen könnte. Und glaubten nicht schon Denker der Aufklärung wie Julien Offray de La Mettrie, dass der menschliche Körper wenig mehr als eine sehr komplexe Maschine ist, die man nur genau genug durchleuchten muss, um sie zu verstehen? Und zu verbessern?
Die Jagd nach Rekorden auf der App kann zu einer Sucht werden
Doch allmählich wird klar, dass die ständige Optimierung nicht funktioniert, dass sie vielmehr zu neuen Abhängigkeiten und Zwängen führt. Ein Strava-Nutzer gestand kürzlich, die Jagd nach Rekorden beim Mountainbiken und Joggen habe sich in eine Sucht verwandelt. Als er Familienausflüge mit dem Baby zu tracken begann, sei ihm sein Problem bewusst geworden. Auch kommen immer mehr Patienten mit einer fertigen Diagnose zum Arzt, die sie mithilfe von Blutzucker- oder Herz-Apps selbst gestellt haben. Die andauernde Vermessung verstärkt schon jetzt den Trend zu Überdiagnose und -therapie, etwa von Bluthochdruck.
Apple Health trägt den Keim der ständigen Gesundheitsüberwachung schon in sich; vom neuen iOS-Betriebssystem lässt sich die App nicht mehr deinstallieren. Versicherer wie Generali bieten Kunden seit Kurzem günstigere Verträge an, sofern sie elektronisch dokumentieren, dass sie sich gesund ernähren und täglich bewegen. "Gesündere Kunden sind besser für uns", erklärte Generali-Chef Mario Greco kürzlich vor Investoren.
Wer seinen Lebensstil entblößt, gewinnt also ökonomisch. Diesen Handel muss man nicht verurteilen. Aber wenigstens sollte die Industrie so ehrlich sein, ihn Handel zu nennen. Stattdessen lockt sie ihre Kunden mit unlauteren Versprechungen von größerem Glück, und verschleiert ihre Absichten. Aber Google und Apple sind eben keine Ärzte, die dem hippokratischen Eid verpflichtet sind oder eine gesündere Welt anstreben. Es sind Großkonzerne, die den Willen ihrer Aktionäre befolgen. Schon deshalb sollte Widerstand erlaubt sein. Gerade wenn es um die eigene Gesundheit geht.