Corona-Maßnahmen:Rechnen für Fortgeschrittene

Corona-Maßnahmen: Noch alles im Blick? Gesundheitsminister Karl Lauterbach.

Noch alles im Blick? Gesundheitsminister Karl Lauterbach.

(Foto: Florian Gaertner/imago images)

Karl Lauterbach spricht von 500 Toten pro Tag - und bringt damit viele ins Grübeln.

Von Christina Berndt

Halb Deutschland rätselt gerade über die Zahl 500. So viele Corona-Tote hatte Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) für den Fall prognostiziert, dass Deutschland nach dem Vorbild von Israel jetzt sämtliche Corona-Maßnahmen einstellt. "Ich habe mal ausgerechnet, wie viele Menschen derzeit mit der Strategie Israels sterben würden, wenn wir ähnlich vorgehen würden", sagte Lauterbach am Dienstag im ZDF-"Heute-Journal". Dann komme man auf eine Quote "von vielleicht 400, 500" Toten pro Tag in Deutschland.

Aber wie kam der Minister auf diese Zahlen, mit denen er sich gegen jetzige Öffnungen aussprach? Das Ministerium machte dazu zunächst keine konkreten Angaben, sondern verwies allgemein auf Berechnungen des Robert-Koch-Instituts (RKI). Kritiker warfen dem Minister vor, Grundrechtseinschränkungen aufrechtzuerhalten, ohne überprüfbare Berechnungen vorzulegen.

Offenbar folgen die Zahlen Lauterbachs einer einfachen Hochrechnung: In Israel, wo der Ausbreitung des Virus schon seit Wochen kaum noch etwas entgegengesetzt wird, sterben gerade so viele Menschen an Covid-19 wie nie zuvor in der Pandemie. Den bisherigen Höhepunkt hat die Zahl der Toten am 4. Februar mit 73 erreicht, zuletzt starben täglich etwa 50 Menschen. Für Deutschland mit seiner neunmal so großen Bevölkerung ergäbe sich daraus die von Lauterbach genannte Größenordnung. Er habe die Inzidenzen und Todesfälle aus Israel für Deutschland hochgerechnet, bestätigte Lauterbach auf SZ-Anfrage. Die Übertragung in die Modellrechnungen des RKI habe die Werte dann untermauert. Eine Öffnung zur jetzigen Zeit würde eine Gefährdung vieler Menschen bedeuten, folgerte Lauterbach und betonte: "Ich lasse die Gefährdeten und die Älteren nicht im Stich."

Aber lässt sich die Lage in Israel so einfach mit der von Deutschland vergleichen? Manche Ähnlichkeiten gibt es durchaus: So haben beide Länder ähnliche Impfquoten in der vulnerablen Bevölkerung - es sind jeweils um die zehn Prozent der über 60-Jährigen nicht ausreichend gegen Covid-19 geschützt. Doch vieles ist auch anders: So liegen die Booster-Impfungen in Israel schon deutlich länger zurück, sie begannen bereits im August, dadurch könnte der Schutz der Älteren schwächer ausfallen, und dem Aufruf zur vierten Impfung sind viele noch nicht gefolgt. Zudem finden sich viele Ungeimpfte in Israel unter den oft abgeschieden lebenden orthodoxen Juden. Solche Cluster in der Bevölkerung verlangsam wiederum die Ausbreitung des Virus. "Der Vergleich zwischen Ländern mit ihrer unterschiedlichen Bevölkerungsstruktur, unterschiedlichen Verhaltensweisen und unterschiedlichem Immunschutz ist immer schwierig", sagt die Virologin Ulrike Protzer von der TU München.

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Wie groß also wäre die Gefahr für die deutsche Bevölkerung, wenn nun alle Maßnahmen fielen? Den jüngsten Modellierungen des RKI zufolge wird die Omikron-Welle aller Wahrscheinlichkeit nach gut handhabbar bleiben. Die Zahl der Covid-Patienten auf den Intensivstationen wird demnach nicht so groß werden wie in früheren Wellen - und damit auch die Zahl der Toten. Allerdings gilt dies für den Fall, dass die Kontakte der Menschen aktuell nicht wieder zunehmen, die Maßnahmen also aufrechterhalten werden.

Lässt man das Virus aber laufen und die Inzidenzen auf Werte von 3500 bis 4000 ansteigen, wie sie auch in Israel erreicht wurden, dann könnte es durchaus 400 bis 500 Tote pro Tag geben, sagte der Wissenschaftler Thorsten Lehr, Leiter des Covid-19-Simulators an der Universität des Saarlands, dem ZDF. Abhängig sei die Zahl der Toten dann auch von der Altersstruktur der Infizierten, so Lehr. Bisher trifft Omikron in Deutschland vor allem die Jüngeren, doch langsam greift die Welle auf die ältere Bevölkerung über, was sich in den Krankenhäusern bereits mit steigenden Patientenzahlen bemerkbar macht. Der Virologin Protzer bereiten auch die vielen Krankheitsfälle Sorgen, die zu Personalausfall in Krankenhäusern, Labors und bei Polizei und Feuerwehr führen. "Wir sollten deshalb abwarten, bis die Zahl der Infektionen auf einem deutlichen Weg nach unten ist", sagt sie, "dann kann man öffnen." Das werde schon in zwei Wochen der Fall sein. "Jetzt noch etwas zu riskieren wegen zwei Wochen, wo wir so viel aufgebaut haben, das leuchtet mir nicht ein."

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