Süddeutsche Zeitung

Covid-19:Anteil der Patienten auf Intensivstationen steigt wieder

Warum heute schon feststeht, dass die Zahl der belegten Betten noch höher werden wird.

Von Werner Bartens

Wer in den letzten Tagen einer Talkshow zum Thema Corona lauschte, der blieb von einem Argument nicht verschont: Die Zahl der Neuinfektionen mag zwar wieder ansteigen, der Blick auf die mit Covid-19-Patienten belegten Intensivbetten und durch das Virus verursachten Todesfälle zeige jedoch, dass die Erkrankungen derzeit weniger schwer verliefen. Also bitte keine Panik, keine Horrorszenarien und nicht schon wieder Kontakteinschränkungen, Sperrstunden und Geschäftsschließungen wie im Frühjahr, so die Botschaft.

Sars-CoV-2 hört jedoch dummerweise nicht auf die Klagen entnervter Politiker, Firmenlenker oder Hobbyforscher. Wie ein trotziges Kind fordern manche Zeitgenossen, dass es nun reiche mit Feierverbot, Reisewarnungen und Wirtschaftskrise und die Pandemie gefälligst zu Ende sein möge. Andreas Gassen von der Kassenärztlichen Bundesvereinigung warf dem Robert-Koch-Institut (RKI) kürzlich gar "falschen Alarmismus" vor, weil nur etwa jeder Tausendste Infizierte auch schwer erkranke. Ist alles gar nicht so schlimm? Nun ist Gassen Funktionär und gelernter Orthopäde. Es gibt günstigere Karrierewege, um virologische Einschätzungen abzugeben.

"Mit erhöhten Todesraten ist - mit entsprechendem Zeitverzug - zu rechnen."

Zudem vermitteln die Zahlen ein anderes Bild. Anfang dieser Woche meldete das DIVI-Intensivregister 618 Intensivbetten, die mit Covid-19-Patienten belegt sind, 28 mehr als am Vortag. Die Kurve zeigt seit Wochen wieder nach oben. Im Juli und August waren regelmäßig weniger als 250 Patienten mit Covid-19 auf Intensivstationen gemeldet worden. Im April, zur Hochphase der Pandemie, wurden zeitweise mehr als 2500 Covid-Patienten auf den Intensivstationen des Landes behandelt.

Das Gesamtniveau der mit Covid-19-Patienten belegten Intensivbetten ist im Vergleich zum Frühjahr weiterhin niedrig. Zudem ist es erfreulich, dass "bundesweit zu jedem Zeitpunkt der Pandemie genügend freie Intensivbetten zur Verfügung standen und die Kapazität der Intensivstationen zum Glück nie voll ausgelastet war", wie DIVI-Sprecher Christian Karagiannidis betonte, als die Zahlen noch nicht wieder angestiegen waren. Das gilt jetzt genauso. Derzeit sind von mehr als 30 000 gemeldeten Intensivbetten in Deutschland knapp 9000 frei.

Die Tendenz ist allerdings ungünstig. Und wer vergessen hat, wie Exponentialfunktion geht, der mag an die indische Legende vom König denken, der zustimmte, dem Erfinder des Schachspiels einen Wunsch zu erfüllen: Fürs erste Feld des Bretts ein Reiskorn, fürs zweite zwei, für das dritte vier und weiter stets das Doppelte. Der König lachte, weil ihm die Menge so lächerlich erschien, konnte aber die 18 Trillionen Körner, die zusammengekommen wären, im ganzen Reich nicht aufbringen.

Über Angela Merkel wurde ebenfalls gespottet, als sie im September eine Rechnung aufstellte, wonach die monatliche Verdopplung der Neuinfektionen zu 19 200 täglichen Fällen bis Weihnachten führen würde. Für Oktober ist dieser Wert bereits jetzt überschritten, nachdem an diesem Dienstag 5132 Neuinfektionen vom RKI gemeldet wurden.

"Derzeit sehen wir nur die Spitze des Eisbergs", sagt Clemens Wendtner, Chefarzt für Infektiologie an der München-Klinik Schwabing. "Der Anteil an Patienten, die eine intensivmedizinische Behandlung nötig haben, wird in den kommenden Wochen wieder stark zunehmen, schätze ich. Ein Intensivaufenthalt korreliert leider auch mit einem tödlichen Ausgang der Covid-19-Infektion, sodass auch wieder mit erhöhten Todesraten - mit entsprechendem Zeitverzug - zu rechnen ist." Wendtner berichtet, dass sein Team wieder meist ältere Patienten stationär aufnehme.

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Die Zahl der Covid-19-Todesfälle wird an diesem Dienstag mit 9677 angegeben, 43 mehr als am Vortag. Anfang vergangener Woche lag der Wert bei elf oder zwölf, im Juli und August war er zumeist einstellig. Das sind im Vergleich zum Frühjahr noch niedrige Zahlen, doch exponentielles Wachstum kann auch mit der Zahl eins anfangen. Zu beachten ist zudem der Zeitverzug. Es dauert im Mittel acht bis zehn Tage vom Beginn der Symptome, bis Patienten bei schweren Verläufen auf die Intensivstation müssen. Bis zum Tod vergehen durchschnittlich 16 bis 18 Tage, nachdem die Beschwerden begonnen haben. Die aktuellen Zahlen über Intensivpatienten und Todesfälle spiegeln also das Infektionsgeschehen von vor zwei, drei Wochen wider. Anzeichen, dass die Erkrankung derzeit milder verläuft, gibt es nicht. "Von 191 Patienten mit Intensivkontakt bei uns sind leider 55 gestorben, das heißt, jeder vierte Patient erliegt dieser heimtückischen Infektionserkrankung", sagt Wendtner.

Nicht überall bemerken Ärzte schon, dass es mehr schwere Verläufe gibt

Seit September stieg die Zahl der hospitalisierten Patienten mit Covid-19 besonders in den Großstädten wieder an. Seit Anfang Oktober hat sie sich vielerorts verdoppelt. In Berlin werden laut DIVI mit Stand vom 14. Oktober 57 Patienten auf Intensivstationen betreut, in Hamburg 19, in Köln 28, in Essen 15 und in München 14.

Nicht überall in den Kliniken bemerken Ärzte schon, dass es mehr schwere Verläufe gibt. "Schon seit Längerem haben wir keine Fälle mit Covid-19 auf Intensiv und zwei oder drei Patienten auf den Normalstationen", sagt Stefan Kohlbrenner, Oberarzt für die Intensivstation am Diakoniekrankenhaus in Freiburg. Wie sich die Lage entwickeln wird? "Das kann niemand voraussehen, dazu hat sich die Lage in den vergangenen Monaten zu oft verändert", sagt Kohlbrenner.

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SZ vom 15.10.2020
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