Süddeutsche Zeitung

Covid-19:Angst vor dem Kontrollverlust

Noch ist die Zahl der Krankheitsfälle beherrschbar. Aber die Intensivstationen werden sich in einigen Wochen wieder füllen. Hält das Gesundheitssystem dem Druck dann stand?

Von Christina Kunkel und Sören Müller-Hansen

Es ist wohl dies die neue Normalität, dass sich bei jedem öffentlichen Auftritt in Coronazeiten jemand Sorgen macht. Meist sind es Zahlen oder das Verhalten einzelner Menschen, die Gesundheitsexperten und Politiker zu Mahnern und Warnern werden lassen. Dabei bedingt das eine das andere. So war es auch am Donnerstag, als am frühen Morgen diese Zahl aufploppte: 4058 neue Corona-Infektionen, gemeldet an einem einzigen Tag. Das sind rund 1200 mehr Fälle, als am Tag zuvor an das Robert-Koch-Institut übermittelt wurden. Was ist da passiert? Erfasst Deutschland nun eine zweite Pandemie-Welle?

Eindeutig lassen sich diese Fragen nicht beantworten. Die rund 4000 Fälle könnten ein Ausreißer sein, vielleicht gab es Meldeverzüge, technische Probleme. Oder aber am vergangenen Wochenende hat es an gleich mehreren Orten in Deutschland Feiern oder sonstige Zusammenkünfte gegeben, die zu Superspreading-Events wurden. Falls man solche Ausbrüche schnell lokalisiert und eindämmt, können die Fallzahlen rasch wieder nach unten gehen. Dennoch ist eines längst klar: Schon den ganzen September über lagen die Neuinfektionen im Wochenschnitt deutlich über den Zahlen aus den Sommermonaten - die Kurve geht hoch.

Reiserückkehrer machen nur noch acht Prozent aller Neuinfektionen aus

Um diese Dynamik zu verstehen, muss man sich vergegenwärtigen, dass jetzt veröffentlichte Zahlen nicht die aktuelle Situation widerspiegeln. Der Arzt und Autor Philipp S. Holstein hat dies anschaulich beschrieben: "Ein Porsche wird mit 33 Kilometern pro Stunde zwei Meter nach Beginn der Spielstraße gemessen. 33 ist wirklich kein Drama. Wenn zu dem Zeitpunkt das Gaspedal aber voll durchgedrückt ist, wird voraussichtlich vier Sekunden später eine Geschwindigkeit von 100 Kilometern pro Stunde erreicht sein. Und das ist dann dramatisch gefährlich für die Kinder."

Übertragen auf die Infektionskurve bedeutet das: Der Coronaporsche hat seine Beschleunigungsfahrt vor mehr als zwei Wochen begonnen. Wie schnell er aktuell fährt, weiß keiner. Besonders rasant ging es damals offenbar schon in Berlin und Bremen zu, wo die Zahl der positiven Tests seither besonders stark steigt. Doch es sind nicht nur einzelne Hotspots, an denen vor allem private Feiern zu Superspreading-Events wurden, wie etwa eine Hochzeit in Hamm. Die Zahl der gemeldeten Corona-Fälle geht vielmehr flächendeckend nach oben. "Es gibt kleinere Ausbrüche an Arbeitsplätzen, aber auch wieder in Alten- und Pflegeheimen und in Krankenhäusern", erläutert RKI-Präsident Lothar Wieler. Reiserückkehrer machten aktuell nur noch acht Prozent aller Neuinfektionen aus, das Infektionsgeschehen findet also wieder innerhalb Deutschlands statt. Dagegen gibt es laut Gesundheitsminister Jens Spahn keine Ausbrüche beim Einkaufen oder Friseurbesuch, auch eine Fahrt mit Bus oder Bahn sei nach derzeitigem Erkenntnisstand nicht besonders riskant.

Der Blick auf die Zahlen zeigt auch: Durch vermehrtes Testen kann der Anstieg der Neuinfektionen nicht erklärt werden. Die Rate der positiven Tests kletterte in den vergangenen Wochen ebenfalls nach oben und lag zuletzt bei 1,64 Prozent. Dieser Wert ist verglichen mit anderen Ländern, die ebenfalls ausgiebig testen, immer noch sehr niedrig. Auch in Deutschland gab es im Frühjahr Wochen, in denen rund jeder zehnte Test positiv ausfiel - allerdings wurden damals hauptsächlich Menschen getestet, die Symptome zeigten. Viele asymptomatisch Infizierte wurden gar nicht erfasst. Mittlerweile ist jedoch klar, dass man das Virus weitergeben kann, wenn man selbst nicht erkrankt.

Doch wie aussagekräftig ist der Blick allein auf die Infektionszahlen? Auch hier gilt: Die aktuellen Daten können nur ein Anhaltspunkt dafür sein, was im Abstand von ein bis zwei Wochen folgen kann. Je mehr Menschen sich jetzt anstecken, desto größer wird die Zahl derer sein, die eine Krankenhausbehandlung benötigen. In den vergangenen vier Wochen hat sich die Zahl der Corona-Patienten auf den Intensivstationen bereits verdoppelt - sie liegt aktuell bei 470. Bis jemand nach einer Infektion Symptome zeigt und so schwer krank wird, dass er auf eine Intensivstation muss, vergehen jedoch rund zwei Wochen. Für die jetzt gemeldeten 4000 Fälle gilt, dass man über deren Krankheitsverlauf im Moment noch wenig sagen kann.

Eines lässt sich jedoch bereits an den Zahlen ablesen: Während das Infektionsgeschehen im Sommer lange Zeit überwiegend von jungen Menschen getrieben wurde, die seltener schwer an Covid-19 erkranken, ist der Anteil der besonders gefährdeten Altersgruppe ab 60 Jahren seit August von sieben auf 16 Prozent gestiegen. Es lässt sich also nicht verhindern, dass das Virus von der jüngeren in die ältere Bevölkerung getragen wird. "Der 20-Jährige, der gar nicht weiß, dass er infiziert ist, besucht dann die Oma oder arbeitet in einem Krankenhaus", beschreibt es Gesundheitsminister Jens Spahn.

"Es ist möglich, dass wir mehr als 10 000 neue Fälle pro Tag sehen."

Ein Blick nach Frankreich, wo die Kurve der Neuinfektionen bereits vor einem Monat dramatisch stieg, zeigt eindrücklich: Nach dem Anstieg der Neuinfektionen füllen sich erst mit einigen Wochen Verzögerung die Intensivstationen, und schließlich steigt auch die Zahl der Covid-19-Toten wieder. Das ist es, wovor RKI-Präsident Wieler warnt: "Es ist möglich, dass wir mehr als 10 000 neue Fälle pro Tag sehen und dass sich das Virus unkontrolliert verbreitet." Wann dieser Punkt erreicht sein wird, ist jedoch schwer vorhersehbar. Zwar deutet sich in den aktuellen Zahlen ein exponentielles Wachstum an, doch daraus lässt sich nicht so einfach eine Prognose ableiten, in welcher Situation wir uns in einigen Monaten befinden werden.

So könnte die Ausbreitung des Virus mit regionalen und gezielten Maßnahmen gebremst werden. Wenn bestimmte Grenzwerte überschritten werden, müssen etwa Bars und Geschäfte früher schließen, Gruppengrößen werden beschränkt - und auch die Bevölkerung verhält sich vorsichtiger. Denn die Pandemiebekämpfung wird immer schwieriger, je mehr Neuinfektionen es gibt. Zentrale Bausteine der deutschen Anti-Corona-Strategie sind Tests, Kontaktnachverfolgung und Quarantäne, um weitere Ansteckungen zu verhindern. Eine Strategie, die bei niedrigen Infektionszahlen gut funktioniert, bei einem exponentiellen Wachstum der Pandemie aber schnell an ihre Kapazitätsgrenzen stoßen kann. Sind diese Grenzen einmal überschritten, droht eine unkontrollierbare Ausbreitung des Virus.

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Quelle:
SZ vom 09.10.2020
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