Oft braucht es nur das passende Schlagwort, um Kennerschaft vorzutäuschen. Wird der "frühe Godard" oder der "späte Heimito von Doderer" lässig erwähnt, ist manches Publikum vom Namedropping so beeindruckt, dass es beim Gegenüber gleich profunde Einsichten vermutet. Ähnlich verhält es sich mit dem Hinweis auf "eine Studie aus Stanford". Auch wer mit Wissenschaft wenig vertraut ist, hat gehört, dass Stanford wie Oxford oder Harvard zum kleinen Kreis der Elite-Universitäten zählt. Und was von einem so hochrangigen Forschungsstandort kommt, kann ja nur von bester Qualität sein, oder?
Und so führen medizinische Laien und Pseudoexperten gerne jene ominöse "Studie aus Stanford" an, wenn sie ihren Unmut über den Lockdown äußern oder Corona mit Grippe gleichsetzen. John Ioannidis ist an dem kürzlich erschienenen Artikel beteiligt, ein schillernder Wissenschaftler der Stanford University, der dort als Epidemiologe und Methoden-Experte tätig ist. Bekannt wurde der Arzt griechischer Abstammung im Jahr 2005 mit einem Fachartikel, in dem er lustvoll darlegte, warum die meisten Forschungsergebnisse falsch seien. Dieser Fachaufsatz wurde mit mehr als drei Millionen Aufrufen mehr als jeder andere wahrgenommen.
Ioannidis und seine Co-Autoren versuchen in ihrem neuen Werk zu begründen, warum es nichts bringt, einen bestehenden Lockdown weiter zu verschärfen. Dies kommt vielen gelegen, die ermattet von immer neuen Einschränkungen sind. Um Studien einzuordnen, braucht es jedoch Hintergrundwissen und Zeit - begrenzte Ressourcen, zumal während einer Seuche, in der das Wissen von gestern der Irrtum von heute sein kann. Einfacher ist es da, die Schlüsselbegriffe Stanford, Studie und Forscherstar Ioannidis fallen zu lassen.
Dieses Vorgehen ist in mehrfacher Hinsicht problematisch. "Die Studie von Ioannidis zeigt ja nicht, dass ein Lockdown nichts bringt", sagt Methodenexperte Gerd Antes, langjähriger Leiter des Cochrane-Zentrums Freiburg. Es werde lediglich angezweifelt, ob ein verschärfter Lockdown wesentlichen Zusatznutzen hat. "Es ist eine Überinterpretation und kein Freibrief für Verharmloser und Zweifler, dass die Maßnahmen falsch sind." Zudem habe der "weiche" Lockdown sehr wohl etwas gebracht, sonst lägen die Zahlen vermutlich weit höher. Wenn bereits Einschränkungen bestünden, sei der weitere Spielraum nun mal nicht mehr sehr groß.
"Studien werden überinterpretiert und nach Belieben missbraucht"
In der erwähnten Arbeit schreibt das Team um Ioannidis denn auch, "die Studie baue darauf, dass Fallzahlen durch nicht-pharmakologische Einschränkungen (NPI) wirksam sinken". In ihrer Analyse hätten die Forscher zwar keine Hinweise dafür gefunden, dass ein restriktiver Lockdown einen "bedeutsamen Zusatznutzen" bringe. Ein "mäßiges Absenken der Fallzahlen um bis zu 30 Prozent" durch strenge Einschränkungen könne aber "in einigen Ländern nicht ausgeschlossen" werden, so die Autoren.
"Eine Effektgröße bis zu 30 Prozent, das ist in der Medizin doch der Hammer", sagt Neurologe Ulrich Dirnagl von der Charité, der zudem zur Qualität von Wissenschaft forscht. "Stellen Sie sich vor, Sie könnten den Blutdruck um fast ein Drittel senken, das erreichen wir eigentlich nie. Fantastisch, in der Pandemie die Fallzahlen so zu verringern!" In der Studie falle das als möglicher Erfolg des Lockdowns fast unter den Tisch.
Zudem zeigt sich ein weiteres Problem der Studie aus Stanford: Die Beweisführung von Ioannidis überzeugt nicht. "Das ist eine statistische Modellierung auf Grundlage von schwierigen Daten", sagt Methodenexperte Dirnagl. Warum dient neben Schweden ausgerechnet Südkorea als Beispiel für weniger restriktive Maßnahmen, um es mit Spanien, Italien, aber auch den USA und Deutschland als Ländern mit angeblich strengen Einschränkungen zu vergleichen?
Diese Zuordnung sei so fragwürdig wie die Auswertung "subnationaler", also regionaler Daten, wenn es um Ländervergleiche gehe. Ob Deutschland mit Fallzahlen aus Sachsen-Anhalt (Inzidenz derzeit über 200) oder Niedersachsen (Inzidenz unter 100) in die Berechnung eingehe, mache ja einen großen Unterschied. "Sie drehen an einer Schraube, dann ändert sich das Ergebnis um ein Vielfaches", sagt Dirnagl. "Zudem kann man aus einer einzelnen Studie keine allgemeingültige Evidenz und erst recht keine Begründung für bevölkerungsweite Maßnahmen ableiten." Leider sei es beim Thema Corona normal geworden, einzelne Analysen nicht im Kontext zu sehen, beklagt Gerd Antes: "Studien werden überinterpretiert und nach Belieben missbraucht, um die eigene Meinung ,wissenschaftlich' zu unterstützen."
"Vereinfachungen werden der komplexen Situation nicht gerecht", sagt Lars Hemkens, Biostatistiker an der Uni Basel. "Deshalb sind pauschale Aussagen zum Sinn oder Unsinn von ,dem Lockdown' wenig hilfreich - dass ein Lockdown unterschiedlich aussehen kann, zeigt der Artikel ja." Im Dezember hatten Forscher im Fachblatt Science berechnet, dass Schulen, Geschäfte und Gastronomie zu schließen, neben Kontakteinschränkungen, die Infektionszahlen senken könne - zusätzliche Ausgangssperren aber wenig Wirkung zeigen. Doch auch diese Analyse hat Altersgruppen und Verhalten unterschiedlicher Art zusammengefasst und daher methodische Grenzen. "Jenseits der Ioannidis-Arbeit lautet die wichtigere Frage: Wie schaffen wir es, genauer zu verstehen, welche Einzelmaßnahme in welcher Variante wie viel nutzt, schadet - und welche Faktoren eine Rolle spielen", sagt Hemkens. "Eine Aufschlüsselung der Covid-Fälle nach Berufsgruppen wäre schon aufschlussreich."
Wer sich nach John Ioannidis erkundigt, hört immer wieder Begriffe wie "Provokateur". Im Frühjahr hatten ihn Verharmloser der Pandemie mit der Santa-Clara-Studie zitiert. Darin hatte der Forscher die Sterblichkeit infolge von Sars-CoV-2 weit niedriger angegeben als andere Wissenschaftler. Von Fachleuten wurde die Arbeit wegen ihres schlechten Aufbaus zerrissen. "Ioannidis gefällt sich so als Ikone derer, die konventionellem Wissen trotzen, dass er darüber furchtbare Forschung macht", urteilte der Genetiker Alexander Rubinsteyn in US-Medien.
Forscher können kaum verhindern, falsch verstanden und instrumentalisiert zu werden
Der Ansehensverlust ist für Ioannidis unangenehm. Schwerer wiegt jedoch, dass die Debatte vergiftet ist. "Zum Thema Corona gibt es eine unglaubliche Lagerbildung", sagt Ulrich Dirnagl. "Abweichende Meinungen werden nicht diskutiert, sondern missbraucht. Dabei wäre es das Ende der Wissenschaft, wenn sich Forscher zurückhalten und nicht veröffentlichen, wenn sie Ungewöhnliches beobachten." Gerd Antes beklagt in der Pandemie eine Radikalisierung der Diskussion. "Oft werden Wörter wie ,weil' und ,damit' für vermeintliche Zusammenhänge benutzt, obwohl wir nichts Genaues wissen." Zwar könne sich niemand dagegen wehren, falsch verstanden und instrumentalisiert zu werden. "Doch um die Gefahr zu minimieren, braucht es Studien mit hoher Qualität und Ergebnisse müssen mit der unvermeidlichen Unsicherheit kommuniziert werden."