Am 12. Dezember meldete das Robert-Koch-Institut für den brandenburgischen Landkreis Elbe-Elster 241 Neuinfektionen je 100 000 Einwohner binnen sieben Tagen. Für den Kreis Sonneberg in Thüringen gab das RKI die Inzidenz mit 182 an, für den Berliner Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg mit 162. Mit etwas Abstand stellten sich die Angaben allesamt als deutlich zu niedrig heraus: In Elbe-Elster lag die Inzidenz eigentlich bei 473, in Sonneberg bei 404, in Friedrichshain-Kreuzberg bei 281. Die RKI-Zahlen lagen weit daneben.
Die genannten Beispiele mögen extrem sein, doch sie stehen für ein größeres Problem: Das Robert-Koch-Institut bezieht nur einen Teil der Infektionsfälle, die ihm innerhalb einer Woche aus den Kreisen gemeldet werden, in die Berechnung der Sieben-Tages-Inzidenz ein. Die vom RKI genannten Inzidenzwerte fallen deshalb systematisch zu niedrig aus. Fast immer müssen sie im Nachhinein nach oben korrigiert werden. Viele Bundesländer rechnen ebenfalls mit der fehlerbehafteten Methode des RKI.
Wenn die Inzidenz unterschätzt wird, ist das kein theoretisches Problem, sondern hat reale Folgen: Die Werte dienen als Entscheidungsgrundlage für Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie. Fällt der amtliche Inzidenzwert zu niedrig aus, werden womöglich Regeln nicht in Kraft gesetzt, obwohl das Infektionsgeschehen dies eigentlich erfordern würde. Mittlerweile hat der Bundestag diese steuernde Funktion der Inzidenz sogar im Infektionsschutzgesetz festgeschrieben. Paragraf 28a definiert verschiedene Schwellenwerte. Maßgeblich seien die vom RKI veröffentlichten Werte.
Sind die amtlichen Zahlen nicht aktuell, werden womöglich Regeln gar nicht in Kraft gesetzt
Die Süddeutschen Zeitung hat die Inzidenz-Angaben des RKI für alle Landkreise und kreisfreien Städte über einen Zeitraum von zwei Wochen dokumentiert und ausgewertet. Mehr als 5700 Datenpunkte fließen in die Analyse ein. Im Mittel fällt die Inzidenzangabe des RKI demnach um 17 Punkte zu niedrig aus. In weniger als einem Fünftel der Fälle stellt sich die amtliche Inzidenz im Nachhinein als zu hoch heraus. Der Statistiker Helmut Küchenhoff von der Universität München und der Mathematiker Moritz Kaßmann von der Universität Bielefeld haben bei der Auswertung beraten.
"Bei der Methode des RKI fällt ein Teil der Fälle unter den Tisch. Das ist problematisch", sagt Küchenhoff. Die RKI-Zahlen ergeben sich aus einer bundesweiten Datensammlung. Die Meldung eines positiven Corona-Tests erfassen die Gesundheitsämter in den 401 einzelnen Landkreisen und kreisfreien Städten. Von dort wandern die Daten weiter an die Landesgesundheitsbehörden. Diese fassen die Meldungen zusammen und melden ihre Werte an das RKI. Doch nicht alle diese Fälle fließen in die Inzidenzberechnung ein.
Denn das RKI ordnet die Fälle demjenigen Datum zu, an dem sie den Kreisbehörden vor Ort gemeldet wurden. Bei einem Teil der Fälle liegt dieses Datum so weit zurück, dass der Fall aus dem Sieben-Tages-Fenster herausfällt. Jene Infektion wird dann der Vorwoche zugeordnet - deren Inzidenz erhöht sich also im Nachhinein. Doch diesen korrigierten Wert nimmt niemand mehr zur Kenntnis. Rückwirkend lässt sich keine Schule schließen. Rückwirkend lässt sich keine Ausgangssperre verhängen. "Die Methode des RKI ist geeignet, um den Verlauf der Pandemie möglichst präzise abzubilden", sagt der Mathematiker Kaßmann, "als tagesaktuelle Grundlage für Entscheidungen ist sie aber untauglich." Doch genau diese Verwendung sieht das Gesetz vor.
Die im Nachhinein korrigierten Werte nimmt niemand mehr zur Kenntnis
Dem Robert-Koch-Institut ist die Problematik bekannt. Auch der Spiegel hat bereits darüber berichtet. "Durch den Übermittlungsverzug kann es zu einer Unterschätzung der Sieben-Tage-Inzidenz kommen, insbesondere bei dynamischen Entwicklungen, da noch nicht alle Daten vollständig vorliegen", teilt die Behörde auf SZ-Anfrage mit. "Ausschlaggebend für die Bewertung der Situation vor Ort" seien die Daten der lokalen Behörden, da diese aktuell seien. Ein Widerspruch zum Infektionsschutzgesetz, in dem sogar die Internetadresse des RKI-Dashboards angegeben ist.
Mit Küchenhoff und Kaßmann hat die SZ verschiedene Verfahren diskutiert, um validere Inzidenzwerte zu berechnen. Keines kann den tatsächlichen Wert exakt abbilden. Doch bei allen ist die Abweichung deutlich kleiner als die der RKI-Methode. Eine Möglichkeit besteht darin, den Ämtern mehr Zeit zu geben. Also zum Beispiel nicht alle Meldungen bis zum Vortag zu berücksichtigen, sondern etwa nur bis vorgestern oder vorvorgestern. Der Abstand reduziert den Einfluss ausstehender Nachmeldungen. Küchenhoffs Team an der Uni München nutzt diese Methode.
Eine sehr einfache Lösung erweist sich als verblüffend zuverlässig: Dabei werden die Fälle nicht dem Meldedatum bei der lokalen Behörde zugeordnet, sondern dem Veröffentlichungsdatum beim RKI. In die Inzidenz fließen also alle Infektionen ein, die dem RKI binnen einer Woche gemeldet werden. Ein Teil dieser Fälle gehört eigentlich bereits zur Vorwoche, doch zugleich fehlen Fälle der laufenden Woche, die noch nicht gemeldet wurden. Beide Effekte gleichen sich gegenseitig zu großen Teilen aus. Daher sind die auf den Karten und Diagrammen der SZ dargestellten Inzidenzwerte mit diesem Verfahren errechnet.