Süddeutsche Zeitung

Corona-Impfungen:Impfstrategie mit Fragezeichen

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Anders als die meisten Länder immunisiert Indonesien zuerst die jungen Menschen. Wie hilfreich dieser Ansatz ist, hängt von Faktoren ab, die noch nicht zu überblicken sind.

Von Arne Perras und Berit Uhlmann

Alte Menschen zuerst. Beim Impfen gegen das Corona-Virus ist dies ein Prinzip, dem sich sehr viele Staaten verschrieben haben. Neben dem medizinischen Personal haben die ältesten Bürger meistens Priorität, weil sie besonders schutzbedürftig sind. Der Staat Indonesien allerdings geht einen ganz anderen Weg. Dort lautet die Devise: Jüngere Leute zuerst. Seit Kurzem wird in dem Inselstaat der Impfstoff des chinesischen Herstellers Sinovac verabreicht - doch zunächst nur an Bürger von 18 bis 59 Jahren. Wer älter ist, muss warten. Das Vakzin wurde in Indonesien auch nur in dieser jüngeren Altersgruppe getestet.

Gesundheitsminister Budi Gunadi Sadikin erklärte den Kurs gegen das Coronavirus so: "Wir zielen zuerst auf diejenigen, die es wahrscheinlich bekommen und auch verbreiten". Indonesien konzentriere sich deshalb auf Gruppen, die in ihrer Arbeit sehr vielen anderen Menschen begegnen, sagte er dem Nachrichtensender BBC. Als Beispiele nannte er Polizisten, Militärangehörige oder auch die Motorradtaxifahrer, die überall im Inselstaat unerlässlich sind.

Mit dieser Strategie würden die Älteren indirekt mit geschützt, erklärte das Gesundheitsministerium. Wer diejenigen Haushaltsmitglieder impfe, die zur Arbeit gingen, verhindere, dass sie das Virus später nach Hause tragen. In Indonesien leben vor allem die Menschen auf dem Land oft in großen Familien zusammen, mit mehreren Generationen unter einem Dach.

Ähnlich argumentierte Amin Soebandrio, Direktor am Eijkman-Institut für Molekularbiologie in Jakarta, als er der Agentur Bloomberg erklärte, dass man mit der Impfung der Jüngeren "eine Festung" errichten könne, die auch dem Schutz anderer Gruppen diene. "Es ist wenig effektiv, wenn wir unsere begrenzte Menge an Impfstoff auf die Älteren konzentrieren, wenn diese weniger dem Virus ausgesetzt sind."

Diego Fossati, Politik- und Sozialwissenschaftler an der City University in Hongkong, verfolgt die indonesische Corona-Politik von Anfang an. Er nennt den Kurs Jakartas ungewöhnlich, aber vernünftig. Auch der Forscher sieht einen guten Ansatz darin, mit den Impfungen auf jene zu zielen, die am ehesten Überträger sind; "und das sind tendenziell die Jüngeren".

Die große Unbekannte: Schützt das Vakzin vor einer Weitergabe des Virus?

Doch es gibt auch Zweifel an dem Vorhaben. Denn der von Jakarta erhoffte indirekte Schutz der Älteren ließe sich nur dann erzielen, wenn die Impfungen tatsächlich Übertragungen des Virus stoppen. Dafür aber gibt es noch keine Belege, sagt der Impfexperte Kim Mulholland, Professor an der London School of Hygiene and Tropical Medicine in einem Interview mit dem arabischen Sender Al-Jazeera: "Die effektiven Impfungen haben lediglich gezeigt, dass sie die Empfänger davor schützen, krank zu werden."

Das gilt auch für das nun in Indonesien eingesetzte chinesische Vakzin. Dem Studienprotokoll zufolge wurde in den Tests in Indonesien nicht erfasst, ob es unter den Geimpften asymptomatisch Infizierte gab, die das Virus weiterverbreiteten. Das Vakzin, das inaktivierte Sars-CoV-2-Erreger enthält, wird wie die bisher in Deutschland zugelassenen Präparate in den Muskel gespritzt. Es wird angenommen, dass derart verabreichte Impfstoffe vor allem eine Immunantwort in den unteren Atemwegen hervorrufen, jedoch kaum eine Reaktion in den oberen Atemwegen erzeugen, wo das Coronavirus zuerst angreift. Damit könnten die Geimpften das in Nase und Rachen vorhandene Virus womöglich noch immer an andere Menschen weitergeben.

Auf diesen kritischen Punkt weist auch Daniel Larremore, Computerwissenschaftler der University of Colorado in Boulder, hin, der gemeinsam mit Kollegen Impfstrategien modelliert und im Fachmagazin Science veröffentlicht hat. Darin zeigte sich, solange offen ist, ob das Vakzin Übertragungen wirksam unterbindet, "sollten wir den gefährdetsten Menschen Vorrang geben". Auf diese Weise könnten mehr Menschenleben gerettet werden.

Auch eine noch nicht von unabhängigen Experten begutachtete Modellierungsstudie von Wissenschaftlerinnen aus Seattle und Washington ergab, dass zumindest bei begrenzten Impfstoffmengen und eingeschränkter Wirksamkeit mehr Todesfälle vermieden werden, wenn die Älteren zuerst geimpft werden.

Die beiden Arbeiten zeigten allerdings auch, dass unter bestimmten Bedingungen die Priorisierung jüngerer Menschen sinnvoll sein könnte, um Infektionen rasch einzudämmen. Der Erfolg ist abhängig von einer ganzen Reihe von Faktoren, nicht nur der Fähigkeit des Impfstoffs, Übertragungen zu unterbinden, sondern unter anderem auch von seiner Wirksamkeit, Verfügbarkeit und dem Impftempo.

Derzeit aber ist nicht einmal sicher, wie effektiv der Sinovac-Impfstoff ist. Bei seiner Zulassung berief sich die zuständige indonesische Behörde auf Analysen, wonach die Wirksamkeit bei 65,3 Prozent liege. In Tests in Brasilien allerdings lag sie nach Medienberichten bei nur 50,4 Prozent. Jakarta hat eine Zusage für 125,5 Millionen Dosen des chinesischen Impfstoffs, damit könnte etwa ein Viertel der 270 Millionen Einwohner geimpft werden. Dies dürfte nicht ausreichen für die Herdenimmunität, also jenen Zustand, in dem so viele Menschen geschützt sind, dass sich das Virus nicht mehr in großem Stil verbreiten kann. Er ist verschiedenen Schätzungen zufolge erreicht, wenn mindestens 50 Prozent, wahrscheinlich aber ein noch größerer Teil der Bevölkerung immun sind. Erst in der zweiten Jahreshälfte soll Indonesien dann auch weitere Impfstoffe einsetzen können.

Noch eine weitere Entscheidung hat Diskussionen im Land ausgelöst: Ganz vorne auf der Impfliste stehen in Indonesien auch Celebritys und Influencer der sozialen Medien. Einer von ihnen, der 33-jährige Sänger Raffi Ahmad, wurde bereits zusammen mit dem Präsidenten Joko Widodo geimpft. Jakarta erhofft sich von solchen Stars einen Werbeeffekt, denn die Impfbereitschaft im Land ist sehr gering. Im Dezember veröffentlichte die Jakarta Post Ergebnisse einer Umfrage, wonach sich nur 37 Prozent der Bürger immunisieren lassen wollen.

Ökonomische Erwägungen könnten bei der Strategie eine Rolle spielen

Der riesige Inselstaat zwischen Indischem Ozean und Pazifik hat nur ein sehr lückenhaftes Gesundheitssystem und zählt zu jenen asiatischen Staaten, die anfangs weit weniger rasch und konsequent gegen die Ausbreitung des Virus vorgingen als einige ihrer Nachbarn, etwa Thailand, Vietnam oder Singapur. Es hat viele Ungereimtheiten gegeben, die Gefahr sei von politischen Führern heruntergespielt worden, seit einigen Monaten sei die Corona-Politik allerdings ernsthafter, sagt der Asienspezialist Fossati.

Registriert wurden für das Jahr 2020 mehr als 860 000 Infektionen und 25 000 damit verbundene Todesfälle. In Indonesien sind zwar die Schulen seit fast einem Jahr geschlossen, aber Jakarta hat strikte Lockdowns, wie sie Nachbarstaaten durchsetzten, vermieden, was auch mit wachsenden ökonomischen Sorgen zu tun hat. Auch die Impfstrategie mit seinem Fokus auf der arbeitenden Jugend dürfte, wie Analysten vermuten, darauf zielen, die Ökonomie im Land möglichst rasch und ohne größere Beschränkungen wieder anzukurbeln. Denn die Jugend ist der Motor des Konsums, ein bedeutender Faktor für Indonesiens Wirtschaftswachstum der vergangenen Jahre.

Corona allerdings kehrte den Trend um: 2020 rutschte Indonesien erstmals seit zwei Jahrzehnten in die Rezession, die Wirtschaft schrumpfte im vergangenen Jahr um etwa zwei Prozent, und es ist damit zu rechnen, dass die Armut in diesem Jahr deutlich zunehmen wird.

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