Süddeutsche Zeitung

Herdenimmunität:"Es ist eine Illusion, Menschen strikt voneinander zu trennen"

Der Infektiologe Gerd Fätkenheuer hält nichts davon, Beschränkungen für Jüngere zu lockern, damit diese sich rasch mit dem Coronavirus anstecken. So würden viele Menschen sterben.

Interview von Kathrin Zinkant

Kaum zeigen die Ausgangsbeschränkungen im Kampf gegen das Coronavirus erste Effekte, rückt immer mehr die Frage in den Vordergrund, wie es in den kommenden Wochen und Monaten weitergehen kann. Experten machen Vorschläge, wie die Maßnahmen gelockert und trotzdem das Virus in Schach gehalten werden könnte. Gerd Fätkenheuer, früherer Präsident der Deutschen Gesellschaft für Infektiologie, ist Leiter der Infektiologie am Universitätsklinikum Köln. Für ihn ist klar: Eine einfache Antwort und ein festes Datum für die Rückkehr zur Normalität kann es nicht geben. Eine "kontrollierte Durchseuchung" der Bevölkerung hält die DGI für einen "gefährlichen Irrweg".

SZ: Viele Bundesbürger sehnen sich nach einem Ende der Maßnahmen, nicht wenige haben den Eindruck, es gehe allmählich um ihre Existenz, der Druck wächst. Ist es schon Zeit, über einen Ausstieg aus den Maßnahmen nachzudenken?

Gerd Fätkenheuer: Nachdenken kann man nicht früh genug. Es ist ja für viele eine belastende Situation und man sollte überlegen, wie man aus dieser Situation wieder herauskommt, und zwar Schritt für Schritt. Die Frage ist aber, wann man das umsetzt. Es gibt die Tendenz, an einem konkreten Datum schon jetzt die Rückkehr zur Normalität festmachen zu wollen, zumindest für den größeren Teil der Gesellschaft - und das kann man seriöserweise einfach nicht machen.

Eine Idee lautet, dass man empfindliche Gruppen weiterhin oder noch strenger isoliert, während man das Virus in den sogenannten jüngeren Altersgruppen unter 60 Jahren zirkulieren lässt und damit eine Herdenimmunität erzeugt, die dann auch die älteren Menschen schützt. Was halten Sie davon?

Interview am Morgen

Diese Interview-Reihe widmet sich aktuellen Themen und erscheint von Montag bis Freitag spätestens um 7.30 Uhr auf SZ.de. Alle Interviews hier.

Wir halten in der Deutschen Gesellschaft für Infektiologie überhaupt nichts davon, das ist einfach nicht zu Ende gedacht. Ich nenne ihnen zwei Gründe: Erstens ist es eine Illusion, Menschen strikt voneinander trennen zu können. Unsere älteren Mitmenschen werden ja von den Jüngeren versorgt, auch die Pflegekräfte in den Seniorenheimen sind jünger als 60 Jahre. Und selbst wenn man diese jüngeren Menschen, die sich um Alte und Kranke kümmern, regelmäßig testet, wird das Virus dennoch in die empflindlichen Gruppen hineingetragen. Das ist ein Spillover, ein Überschwappen, und es gibt keinen Weg, das bei einer hinreichenden Versorgung der sensiblen Gruppen zu verhindern.

Aber stellen wir uns mal rein theoretisch vor, das wäre möglich, man fände einen Weg. Was würde dann geschehen?

Wir haben inzwischen sehr gute Zahlen, um vorhersagen zu können, was passiert, wenn man das laufen lässt in der Bevölkerung. Die besten Arbeiten dazu kommen vom Imperial College in London. Für eine Herdenimmunität müssten 60 bis 70 Prozent der Menschen die Infektion durchgemacht haben, das sind in Deutschland rund 50 Millionen Menschen. Und jetzt kann man zwar sagen, dass Menschen unter 60 Jahren seltener schwer erkranken, aber es ist eine Fehlannahme, dass es die Jungen nicht trifft. Wir sehen das ja in der Klinik. Wenn wir die Infektionen so laufen lassen, werden auch in der Gruppe der unter 60-Jährigen 100 000 Menschen sterben, binnen kurzer Zeit. Das kann sich im Moment niemand so recht vorstellen, aber das sind die statistischen Gegebenheiten, wenn man eine rasche Durchseuchung anstrebt. Wir sind deshalb entschieden dagegen.

Medikamente oder Impfstoffe sind nun aber nicht in Sicht. Und Sie sagen ja selbst, dass man irgendwann schrittweise Maßnahmen modifizieren oder lockern muss. Was schlägt die Deutsche Gesellschaft für Infektiologie vor?

Im Wesentlichen entspricht unser Vorschlag den Empfehlungen der Leopoldina, der Nationalen Akademie der Wissenschaften, die gerade veröffentlicht wurden. Dazu gehört zunächst, die Testkapazitäten so weit wie möglich zu erhöhen und noch gezielter zu testen, ältere Menschen und solche mit Symptomen. Das Zweite ist die umfassende Nachverfolgung. Wenn wir die Welle flach halten wollen, müssen wir Infizierte rasch und gezielt ausfindig machen und isolieren.

Aber das wird ja schon gemacht und hat die Ausbreitung des Virus nicht verhindert.

Richtig, das wird schon gemacht und muss auch weiter gemacht werden, aber wenn man es ausschließlich den Leuten in den Gesundheitsämtern überlässt, kommen die einfach nicht hinterher bei den großen Zahlen. Es muss gezielter und schneller gehen. In Science hat eine Gruppe aus Oxford gerade gezeigt, dass man die nötige Geschwindigkeit mithilfe von Kontaktverfolgungs-Apps auf dem Handy erreichen kann, und das halten auch wir für eine sinnvolle Maßnahme. Und schließlich könnten auch selbstgenähte Masken einen Beitrag dazu leisten, die Ausbreitung des Virus zu bremsen. Man schützt damit eher andere als sich selbst, und es ist auch nicht klar, wie groß die Schutzwirkung ist, aber es könnte den Versuch wert sein.

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Und wie lange sollen wir mit Masken herumlaufen und damit rechnen, isoliert zu werden, weil die App anzeigt, dass man Kontakt mit einem Infizierten hatte?

Entweder, bis ein Medikament oder besser noch ein Imfpstoff verfügbar ist. Oder bis alle sich angesteckt haben. Je länger wir das hinauszögern können, desto weniger Menschen sterben, bevor ein Impfstoff verfügbar ist.

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