Süddeutsche Zeitung

Coronavirus:Jetzt entscheidet sich, wie der Herbst wird

Die kleinen Fallzahlen täuschen über alarmierende Entwicklungen hinweg. Die Delta-Variante breitet sich aus, das paneuropäische Superspreading-Event Fußball-EM hilft dabei - und schon bahnt sich die vierte Welle an.

Kommentar von Hanno Charisius

Israel, das Land mit einer der höchsten Impfquoten weltweit, führt ab kommender Woche wieder eine Maskenpflicht in Innenräumen ein - nur zwei Wochen nachdem diese aufgehoben worden war. Im Land, das die Pandemie scheinbar überwunden hatte, ist die Zahl der gemeldeten Neuinfektionen zuletzt wieder deutlich angestiegen. Dies sollte eine Warnung sein für alle, die glauben, das Virus im Griff zu haben.

Sommersonne und Impfungen alleine reichen nicht aus, um das Coronavirus in seiner neuesten Variante Delta unter Kontrolle zu bringen. In Deutschland sinkt die Inzidenz zwar noch, doch ungeachtet der beruhigend kleinen Zahlen findet eine Verschiebung statt: Ein neues Virus übernimmt die Kontrolle. Delta ist wesentlich ansteckender als die bisher zirkulierenden Virusvarianten, und schon bahnt sich die vierte Welle an. Nun hängt es vom Verhalten der Menschen und den Entscheidungen der Politik ab, wie schlimm es im Herbst wird.

Unfassbar, dass nun wieder Zehntausende in die Stadien strömen dürfen

Wahrscheinlich wird die vierte Welle anders verlaufen als die vorherigen. Es werden hoffentlich weniger Menschen sterben. Die meisten, für die das Virus besonders gefährlich werden kann, also vor allem die älteren Jahrgänge, sind durch Impfungen bereits weitgehend geschützt. Doch die Krankenhäuser können auch mit jüngeren Patienten überlastet werden. Deren Überlebenschancen sind bei richtiger Behandlung zwar gut, schwer erkranken können sie dennoch. Neue Daten aus Norwegen zeigen zudem, dass auch von den mild erkrankten jüngeren Menschen zwischen 16 und 30 Jahren viele noch sechs Monate nach der Infektion anhaltende Symptome haben, die mit einer gestörten Funktion des Gehirns einhergehen. Zu den häufigsten Problemen zählen Müdigkeit, Konzentrations- und Gedächtnisstörungen sowie ein verminderter Geruchssinn. In dieser Altersgruppe werden auch im Herbst noch viele ungeimpft sein. Ganz zu schweigen von den Kindern, für die es noch keinen zugelassenen Impfstoff gibt.

Unfassbar erscheint vor diesem Hintergrund, dass in der kommenden Woche wieder Zehntausende Menschen in Fußballstadien strömen dürfen. Wobei die zwei Stunden im Stadion das kleinste Problem sind. Die Zeit davor und danach in U-Bahnen, Flugzeugen und Kneipen geben dem Virus genug Gelegenheit, neue Wirte zu finden. Das paneuropäische Superspreading-Event Fußball-EM bringt die beteiligten Länder bereits in eine epidemiologisch ungünstige Ausgangslage, noch bevor der Sommer vorbei ist.

Es wird schwierig, das Virus wieder einzufangen. Aber es ist noch immer nicht zu spät, um sich für eine Strategie der Niedrig-Inzidenz zu entscheiden. Dafür muss ein neuerlicher Anstieg der Fallzahlen schneller und intelligenter verhindert werden, als es die Bundesnotbremse vorschreibt. Wie das geht, ist längst erprobt: Masken, Abstand, möglichst wenige Kontakte, lüften und Luft filtern, impfen. Dann sind auch die Kinder geschützt, die keine Wahl haben zwischen Impfstoff oder Infektion.

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