Süddeutsche Zeitung

Covid-19:Der lange Weg zur 35

Es gibt eine neue Zielmarke: Ab einer Sieben-Tage-Inzidenz von 35 Neuinfektionen sollen Geschäfte und Museen wieder öffnen dürfen. Wie lange dauert es bis dahin?

Von Christina Berndt und Sören Müller-Hansen

Die 35 ist die neue 50: Lange Zeit galt eine Inzidenz von 50 neuen Corona-Fällen pro 100 000 Einwohner in sieben Tagen als die Schwelle, ab der Lockerungen möglich sind. Doch am Donnerstag senkte die Bund-Länder-Konferenz den Schwellenwert auf 35. Erst wenn diese Inzidenz in einem Landkreis erreicht ist, dürfen Geschäfte und Museen öffnen. Aber was bedeutet die veränderte Zielinzidenz wirklich? Wie viel Zeit wird vergehen, bis die 35 erreicht ist?

Die Antwort hängt von vielen Faktoren ab, zuallererst natürlich von der jetzigen Inzidenz in den jeweiligen Kreisen. Der bayerische Corona-Spitzenreiter Tirschenreuth wird mit seiner Inzidenz von derzeit mehr als 300 noch erheblich länger brauchen als Orte etwa in Norddeutschland, wo die Inzidenz in manchen Landstrichen während der gesamten Pandemie nicht weit über 35 lag.

Mit einer Faustformel lässt sich aber grob errechnen, wie sich die Infektionszahlen entwickeln. Grundsätzlich gilt: Liegt die Reproduktionszahl, also die Zahl der weiteren Menschen, die ein Infizierter ansteckt, unter 1, sinken die Fallzahlen. Bei einer Reproduktionszahl (R) von 0,9 dauert es etwa vier Wochen, bis sich die Fallzahlen einmal halbieren. Das entspricht ungefähr der Geschwindigkeit, in der die Neuinfektionen zuletzt bundesweit zurückgingen. Beträgt R 0,7, ist die Zahl der Fälle schon binnen einer Woche auf die Hälfte gesunken.

Wenn die Entwicklung so weitergeht, dürfte die Marke in etwa zwei Wochen erreicht sein

Derzeit liegt der R-Wert für Sars-CoV-2 in Deutschland nach Schätzungen des Robert-Koch-Instituts (RKI) bei 0,82. Die Inzidenz für ganz Deutschland lag am Donnerstag bei knapp unter 70. Wenn die Entwicklung so weitergeht wie in den vergangenen Wochen, dürfte eine Inzidenz von 35 damit in etwa zwei Wochen erreicht sein.

Allerdings lässt sich die Reproduktionszahl nur auf Basis der bekannten Neuinfektionen schätzen, sie könnte also auch etwas höher oder niedriger sein. Das hätte deutliche Folgen für die Prognose, denn schon kleine Änderungen von R haben einen großen Effekt auf das Infektionsgeschehen. Laut RKI erstreckt sich der Unsicherheitsbereich von 0,77 bis 0,87. Liegt R am oberen Ende, könnte eine Inzidenz von 35 erst in knapp vier Wochen erreicht sein.

Mit der Ausbreitung der neuen Virusvarianten ist ein derartiger gleichmäßiger Rückgang der Fallzahlen aber ohnehin unwahrscheinlich geworden. Denn diese haben nach dem derzeitigen Kenntnisstand einen deutlich erhöhten R-Wert. Dadurch wird die Mutante zunehmend das Infektionsgeschehen dominieren und in den kommenden Wochen die Oberhand gewinnen. Damit wird wahrscheinlich auch R wieder steigen.

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Womöglich lässt sich die angestrebte Inzidenz von 35 vor dem Hintergrund sich ausbreitender Mutanten deshalb überhaupt nicht oder nur für kurze Zeit erreichen - wenn die Maßnahmen unverändert bleiben. Sobald die Mutanten die Oberhand gewinnen, würde die Zahl der Neuinfektionen wieder steigen, auch wenn sie aktuell noch sinkt. Ob dies vor oder nach Erreichen einer Inzidenz von 35 geschieht, hängt vom tatsächlichen R-Wert ab. Nur mit schärferen Maßnahmen als den jetzigen könnte die Inzidenz dann wieder gesenkt werden.

"Es ist also möglich, dass die bisherigen Maßnahmen zwar ausreichen, um die Ausbreitung der alten Virusvarianten einzudämmen, aber zu mild für die Mutanten sind", sagt die Epidemiologin Maria Barbarossa vom Frankfurt Institute for Advanced Studies. Berechnungen von Thorsten Lehr von der Universität des Saarlandes zeigen, dass der R-Wert in den vergangenen Tagen gestiegen ist, nachdem er zuvor stabil war. Dies sei womöglich bereits der Ausbreitung der neuen Varianten geschuldet, sagte Lehr der SZ. Allerdings zeigen die Berechnungen auch erhebliche regionale Unterschiede.

Schneller erreicht würde eine Inzidenz von 35 auch, wenn Impfungen greifen. Je mehr Menschen in einer Bevölkerung vor Ansteckung geschützt sind, desto schwerer hat es das Virus, viele andere Menschen zu infizieren. Ein Infizierter wird dann automatisch weniger Menschen anstecken, auch wenn sich sonst nichts ändert. In Israel sieht man den Effekt bereits, wie Wissenschaftler um Eran Segal vom Weizmann-Institut in Rehovot gerade berichtet haben: Demnach ist die Zahl der Corona-Fälle unter den über 60-Jährigen in den eineinhalb Monaten seit Beginn des extensiven Impfprogramms um 49 Prozent gefallen. Die Impfungen dürften dazu einen wesentlichen Teil beigetragen haben, so die Forscher. Allerdings wurden in Israel bereits 80 Prozent der über 60-Jährigen geimpft. In Deutschland mit seiner landesweiten Impfquote von gerade mal drei Prozent dürfte es also noch dauern, bis die Impfungen die Zahl der Neuinfektionen merklich günstig beeinflussen.

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