Zweite Welle:Probe bestanden, und nun?

01.07.20, Essen, Nordrhein-Westfalen, Deutschland. Universitaetsklinikum Essen. Intensivstation. Blick in ein Stationszi

In Deutschland muss wohl niemand befürchten, nicht gut versorgt zu werden, weil Betten oder Material fehlen: Intensivstation in der Uni-Klinik Essen.

(Foto: Ralph Lueger/imago images)

Noch sind die Experten optimistisch, dass sie in Heimen und Krankenhäusern Zustände wie im Frühjahr vermeiden können. Aber eine Sorge gibt es, und sie betrifft Pflegeeinrichtungen und Intensivstationen gleichermaßen.

Von Werner Bartens und Rainer Stadler

Delmenhorst ist seit zwei Wochen Corona-Risikogebiet. Tiefrot leuchtet die Kommune auf der Deutschlandkarte des Robert-Koch-Instituts (RKI). Zuletzt stieg die Zahl der Neuinfektionen auf 205 pro 100 000 Einwohner. Fast täglich erlässt die Stadtverwaltung neue Verfügungen, am Dienstag dieser Woche traf es die Alten- und Pflegeheime. Von sofort an werde Bewohnerinnen und Bewohnern untersagt, "Räumlichkeiten und Außenbereiche der jeweiligen Einrichtung, in der sie untergebracht sind, zu verlassen". Außerdem gelten verschärfte Besuchsregeln, nur ein Außenkontakt pro Woche ist erlaubt, höchstens 45 Minuten lang. Und das, obwohl es bisher keinen Corona-Fall in einem Heim der Stadt nahe Bremen gibt. Anderswo, sei es im schwäbischen Laichingen, in Grünhainichen im Erzgebirge oder in Berlin-Schöneberg, wurden Dutzende Heimbewohner positiv auf Corona getestet - einige sind gestorben.

Mit dem steilen Anstieg der Fallzahlen nimmt in ganz Deutschland die Sorge zu, dass Altenheime und Krankenhäuser wieder in Not geraten. Zu Beginn der ersten Welle hatten politische Maßnahmen zuvorderst das Ziel, Zustände "wie in Italien" in den Kliniken zu verhindern. Nur in wenigen Hotspot-Regionen gelangten Intensivstationen an die Grenzen ihrer Belastungsfähigkeit. Die Alten- und Pflegeeinrichtungen traf es härter. Etwa die Hälfte der Corona-Toten in Deutschland waren Heimbewohner. Was haben Pflegende, Ärzte und Betreuer aus dem Frühjahr gelernt, wie sind sie vorbereitet auf die zweite Welle, die sich gerade ausbreitet?

"Etliches an Material und Beatmungsmaschinen wurde geliefert, das ist nicht das Problem", sagt Stefan Kohlbrenner vom Diakoniekrankenhaus in Freiburg und dort für die Intensivstation zuständig. Im Herbst seien bisher nur wenige Fälle in die Klinik gekommen, auch im Frühjahr wurden Kapazitätsgrenzen nicht erreicht. "Wir haben jetzt mehr Erfahrung in der Versorgung von Covid-Patienten, aber einen wesentlichen Durchbruch in der Behandlung hat es noch nicht gegeben." Es gehe vielmehr um etliche kleine Verbesserungen und Nachjustierungen in der Therapie, die für Patienten hilfreich sind.

"Wir sind heute in einer anderen Situation als im Frühjahr", sagt Clemens Wendtner, Chefarzt für Infektiologie an der München Klinik Schwabing. Die Klinik hat im Januar die ersten Covid-19-Patienten Deutschlands und seitdem 2500 Verdachtsfälle und mehr als 900 Covid-19-Patienten behandelt, davon 190 auf der Intensivstation. "Wir sind durch die erste Welle gut vorbereitet: Wir haben Wissen erworben, wie wir mit der Erkrankung umgehen, auch in der Therapie haben wir dazugelernt, und uns stehen mehr Instrumentarien zur Verfügung. Diese Vorbereitungen stimmen uns zuversichtlich - auch wenn wir die aktuellen Infektionszahlen mit Sorge beobachten", sagt Wendtner.

In Rekordzeit wurden klinische Studien auf den Weg gebracht, der Wissenszuwachs in der Medizin ist enorm. "Wir haben noch nicht das Allheilmittel gefunden, aber Remdesivir und Dexamethason sind trotz Einschränkungen Therapiebausteine, die bei manchen Patientengruppen wirken", sagt Wendtner. "Wir haben verstanden, dass eine Gerinnungshemmung wichtig für Covid-19 Patienten sein kann. Und nicht invasive Methoden der Beatmung haben vielen Patienten eine Maschinenbeatmung erspart." Wenn es doch nötig wurde, habe man gelernt, Zeitpunkt, Dauer und Intensität der Beatmung optimal zu steuern. Zudem wisse man, dass ein virusfreier Patient noch lange medizinische Aufmerksamkeit und Nachsorge brauche.

Während wohl niemand in Deutschland befürchten muss, nicht gut versorgt zu werden, weil Intensivbetten oder Material fehlen, ist das Personal am Limit. Deutschland hat zwar weltweit die meisten Intensivbetten pro Einwohnerzahl. Doch wenn die Zahlen weiterhin so steigen, gebe es "nicht genügend qualifizierte Pflegekräfte, um sie zu betreiben", beklagte jüngst der Hamburger Intensivmediziner Stefan Kluge. Medikamente und technisches Gerät sind das eine, aber auch gut ausgebildetes Personal mit genügend psychischen Ressourcen ist wichtig, um Patienten optimal zu betreuen. "Natürlich war die erste Welle für alle Beteiligten eine Herausforderung und Belastungsprobe - wir hoffen daher, dass den Kliniken eine höhere Intensität mit steigenden Patientenzahlen in der Klinik erspart bleibt", sagt Raphael Diecke, Sprecher der München Klinik.

Auch in den Alten- und Pflegeheimen sind die Applausbekundungen vom Frühjahr längst verklungen. RKI-Chef Lothar Wieler lobt aber, dass viele Altenheime inzwischen sehr gute Hygienepläne erarbeitet hätten. Die Mitarbeiter seien wachsamer als im Frühjahr. Wenn das Virus tatsächlich in die Heime gelange, könne ein flächendeckender Ausbruch eher verhindert werden, weil mehr Tests zur Verfügung stünden.

Das war im Frühjahr ein großes Problem. Gesunde und Kranke konnten kaum getrennt werden - weil niemand wusste, wer sich infiziert hatte. Zudem haben sich viele Heime mit Masken und anderem Schutzmaterial eingedeckt. Wieler warnt, dass bei steigenden Fallzahlen jedoch auch die Heime wieder stärker betroffen sein werden, "man kann die Bewohner ja nicht völlig isolieren und bestimmte Bevölkerungsgruppen komplett vom gesellschaftlichen Leben ausschließen".

Gerade dieses Szenario zu verhindern, ist wohl eine der großen Lehren aus der ersten Welle der Pandemie. Bewohner wie Angehörige litten unter dem wochenlangen Besuchsverbot, der Zustand vieler Demenzkranker verschlechterte sich rapide. "Wir haben gelernt, dass Teilhabe der Bewohner gleichberechtigt mit ihrem Schutz gesehen werden muss", sagt Ulrich Lilie, Präsident der Diakonie, die gut 2700 Alten- und Pflegeheime in Deutschland betreibt. Viele seiner Heime haben Räume eingerichtet, in denen Besucher ausreichend Abstand von den Bewohnern halten können. Sie sollen so lange wie möglich zugänglich bleiben. Ebenso sollen sich Angehörige von Bewohnern verabschieden können, die im Sterben liegen, was im Frühjahr oft nicht möglich war.

Aber Diakonie-Präsident Lilie macht keinen Hehl daraus, dass Heime auch wieder schließen werden, "wenn bestimmte Quantitäten überschritten sind". Heime haben Schutzverpflichtungen und können dafür auch haftbar gemacht werden. Zudem ist Personal seit Jahren knapp. Wenn viele Mitarbeiter in den Heimen erkranken, könne die Situation wieder außer Kontrolle geraten, warnt Lilie. "Das halte ich für die Achillesferse des Systems."

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