Süddeutsche Zeitung

Hygiene:Ein Schluck Desinfektionsmittel

Seit Beginn der Corona-Pandemie erhalten die Giftnotrufzentralen mehr Hinweise auf versehentlich geschluckte Mittel zur Handhygiene. Wie gefährlich sind diese Präparate?

Von Berit Uhlmann

Es gibt Vorfälle, die man nicht im Traum für möglich gehalten hätte. Dass Menschen vor dem Rat ihres Präsidenten bewahrt werden müssen, Desinfektionsmittel in ihre Körper zu befördern. Vor noch nicht allzu langer Zeit hatte US-Präsident Donald Trump öffentlich darüber sinniert, ob man nicht Menschen zum Schutz vor Covid-19 durch Injektionen quasi von innen desinfizierten könnte. Ärzte sahen sich genötigt, eindringlich zu warnen: Handelsübliche Desinfektionsmittel enthalten hohe Dosen von Alkohol in Form von Ethanol oder Isopropanol und können innerlich angewendet zu einer Alkoholvergiftung führen.

Diese Präparate beschäftigen Toxikologen mittlerweile auch unabhängig von dem bizarren Trump-Auftritt. Seit Handhygiene als eine der wichtigsten Strategien zum Schutz vor dem Coronavirus propagiert wird, sind die Flaschen in vielen Haushalten allzeit zugänglich. Sie stehen griffbereit im Badezimmer, sind in etlichen Handtaschen vorhanden und baumeln bisweilen auch am Kinderwagengriff. Längst nicht alle riechen streng nach Krankenhaus, manche verströmen angenehme Aromen - und werden damit für probierfreudige Kinder besonders interessant.

Das Mädchen trank jeden Abend Desinfektionslösung

So wie für jene Sechsjährige aus Australien, die ihre Eltern plötzlich desorientiert vorfanden. Sie fühlte sich schwindelig, war nicht mehr bei klarem Bewusstsein, ihre Sprache war verwaschen, sie sah doppelt und begann, sich heftig zu übergeben. In der Notaufnahme wurde das Kind zur Sicherheit intubiert. Als es mehrere Stunden später wieder wohlauf war, erzählte das Mädchen, dass es schon seit Monaten gelegentlich vom Hand-Desinfektionsmittel trank - weil es den Geschmack mochte. Nachforschungen ergaben, dass das Kind am Vorabend etwa 50 Milliliter getrunken haben dürfte, wie drei Medizinerinnen aus Sydney im Journal of Paediatrics and Child Health berichten.

"Der Öffentlichkeit sind die potenziellen Gefahren dieser Form der Handhygiene kaum bewusst", warnt die britische Medizinerin Georgia Richards von der Universität Oxford. Im Fachblatt BMJ Evidence-Based Medicine verweist sie darauf, dass die Anfragen beim britischen Giftinformationszentrum in den ersten neun Monaten 2020 um 60 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum angestiegen sind. Fast 400 Meldungen waren es seit Beginn der Corona-Pandemie.

Auch in Deutschland wird dieser Trend beobachtet. Das Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) hat von sieben der acht deutschen Giftinformationszentren Berichte über einen Anstieg der Meldungen erhalten. Die Steigerung lag zwischen 50 und mehr als 100 Prozent. Die Zahl der schwereren Zwischenfälle mit Desinfektionspräparaten habe jedoch nicht zugenommen, hieß es aus der Behörde.

Das passt zu den Erfahrungen der Vergiftungs-Informations-Zentrale Freiburg. Auch hier haben die Anfragen wegen potenzieller Vergiftungen mit Hand-Desinfektionsmitteln in den ersten neun Monaten 2020 um 60 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum zugenommen, sagt Leiterin Maren Hermanns-Clausen. Allerdings machten diese Anrufe insgesamt nur etwa drei Prozent aller Vergiftungs-Anfragen aus.

"Ein erhebliches toxisches Gefahrenpotenzial"

Meist ging es bei den Anrufen um Kinder, die versehentlich Desinfektionsmittel geschluckt hatten. Handelsübliche Präparate in Deutschland haben allerdings meist einen sehr scharfen Geschmack, weshalb Kinder eher nur einen kleinen Schluck zu sich nehmen und damit weniger gefährdet sind. Schwerwiegende Vergiftungen von Kindern durch Hand-Desinfektionsmittel seien in ihrem Zuständigkeitsbereich nicht aufgetreten, sagt die Medizinerin. Dennoch rät sie Eltern, beim Giftnotruf nachzufragen, vor allem, wenn das Kind doch eine größere Menge geschluckt hat.

Auch der Giftnotruf in München verzeichnet eine steigende Zahl von Anfragen, sagt Leiter Florian Eyer. Ihn beunruhigt vor allem, dass im deutschen Handel bereits methanolhaltige Desinfektionsmittel aufgetaucht sind. Methanol ist ein Alkohol, der in diesen Präparaten verboten ist. Er kann Blindheit, Koma und den Tod verursachen. "Ein erhebliches toxisches Gefahrenpotenzial", warnt Eyer. "Schon ein Schluck Methanol kann zu viel sein", sagt auch Maren Hermanns-Clausen. Ein Kind müsse in dem Fall im Krankenhaus behandelt werden. Die Produkte sind zurückgerufen worden. Prinzipiell raten die Experten zur Vorsicht bei Produkten aus dubiosen Quellen.

Die Risiken fallen vor allem deshalb ins Gewicht, da diese Form der Handhygiene im normalen Alltag keinen Nutzen hat. Das BfR hält auch in der Corona-Pandemie seine Empfehlung aufrecht, "dass in Privathaushalten ohne infizierte Personen keine Notwendigkeit besteht, Desinfektionsmittel mit bioziden Wirkstoffen einzusetzen". Es reicht vollkommen, die Hände mit Seife zu waschen und Oberflächen mit handelsüblichen Reinigungsmitteln abzuwischen.

Sie alle enthalten in der Regel Tenside, die die Hülle von Sars-CoV-2 zerstören. Allenfalls bei engem Kontakt zu infizierten Menschen - seien diese nun an dem Coronavirus oder einem anderen leicht übertragbaren Erreger erkrankt - können Desinfektionsmittel im Haushalt als zusätzliche Präventionsmaßnahme eingesetzt werden. Auch, wenn unterwegs keine Gelegenheit zum Händewaschen besteht, kann eines der alkoholhaltigen Präparate eine Alternative sein. Im jeden Fall aber sollten die Mittel außerhalb der Reichweite von Kindern aufbewahrt werden.

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