Contergan-Fehlbildungen bei Kindern:"Das Leid, das die Opfer erfahren haben, hat vielen anderen Menschen Leid erspart"

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Die nordrhein-westfällische Gesundheitsministerin Barbara Steffens (Die Grünen). (Foto: picture alliance / dpa)

Mehr als 50 Jahre nach dem Contergan-Skandal untersuchen Forscher den Fall. Was bringt das den Opfern? Fragen an NRW-Gesundheitsministerin Barbara Steffens.

Interview von Kim Björn Becker

Mehr als 50 Jahre nach dem Skandal um das Schlafmittel Contergan hat die nordrhein-westfälische Landesregierung die Universität Münster damit beauftragt, die Affäre zu untersuchen. Die Wissenschaftler sollten herausfinden, warum der von 1957 an vertriebene Wirkstoff nicht schneller vom Markt genommen wurde, nachdem der Verdacht aufkam, dass er schwere Fehlbildungen bei Kindern im Mutterleib verursacht. In der fast 700 Seiten langen Studie haben die Wissenschaftler nun eine "strukturelle Unterlegenheit" der Behörden gegenüber dem Aachener Pharmakonzern Grünenthal festgestellt. Dieser habe "erheblich schneller größere Ressourcen" als der Staat mobilisieren können und "die absolute Elite der deutschen Strafverteidiger" an seiner Seite gewusst. Am Mittwoch lädt die nordrhein-westfälische Gesundheitsministerin Barbara Steffens (Die Grünen) die Contergan-Geschädigten nach Düsseldorf ein, um über die Ergebnisse zu sprechen.

SZ: Frau Steffens, hilft es den Opfern des Contergan-Skandals, wenn sie jetzt offiziell nachlesen können, was sie längst wissen - nämlich dass die Behörden zu spät und zu zaghaft gehandelt haben?

Barbara Steffens: Ich glaube, dass es für sie wichtig ist, dass sich das Land mit dem Thema auseinandergesetzt und die Sache jetzt historisch aufgearbeitet hat. Ich denke da aber auch an die Generation der Eltern, die sich fragen, ob sie damals alles richtig gemacht haben - oder ob sie im Interesse ihrer Kinder noch sehr viel hartnäckiger hätten sein sollten. Das geht vielen auch heute noch im Kopf herum. Aber natürlich kann keine Studie das Leid der Opfer und ihrer Angehörigen irgendwie rückgängig machen.

Tun Bund und Länder genug, damit sich Fälle wie dieser nicht wiederholen?

In der Form, in der die Affäre sich damals zugetragen hat, ist eine Wiederholung undenkbar. Ein Arzneimittelrecht im modernen Sinn, das die Zulassung von Medikamenten regelt, gab es damals noch nicht. Auch kann der Staat heute ganz anders eingreifen und zum Beispiel Medikamente vom Markt nehmen, wenn es den Verdacht gibt, dass sie Patienten schaden. Diese Verschärfungen des Rechts in den vergangenen Jahrzehnten gab es aber auch nur wegen des Contergan-Skandals. Ohne diese Affäre stünden wir heute wahrscheinlich ganz woanders.

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Warum braucht es in der Politik eigentlich oft erst den großen Knall, damit Missstände korrigiert werden?

Ich würde das nicht verallgemeinern. Es war im Fall Contergan so, wie Sie sagen. Und die historische Studie liefert dafür den Hintergrund: In den Fünfziger- und Sechzigerjahren entstand die moderne Pharmaindustrie, da hatten die Unternehmen einen ganz massiven Stand in der Gesellschaft und großen politischen Einfluss. Die Industrie war dem Staat in fast allen Bereichen überlegen. Die Behörden hätten später womöglich nicht mehr Rechte bekommen, wenn dieses Missverhältnis nicht so deutlich geworden wäre, wie es der Fall Contergan auf dramatische Weise zeigt. Das Leid, das die Opfer erfahren haben, hat vielen anderen Menschen Leid erspart.

Auch heute kann sich die Pharma-Industrie Kampagnen leisten, sie kann Ärzte und Apotheker umwerben und die besten Juristen engagieren. Von Augenhöhe mit dem Staat kann keine Rede sein.

Man kann sicher nicht sagen, dass Unternehmen dem Staat in jeder Hinsicht unterlegen sind. Gerade große Konzerne haben ganz andere finanzielle Möglichkeiten, um teure Prozesse zu führen oder Studien zu erstellen. Aber Regierungen haben andere Möglichkeiten, sie können durch das Gesetz Kontrolle ausüben und damit eventuelle Nachteile ausgleichen. Die Stärke des Staates besteht vor allem darin, dass er auf Transparenz drängen kann. Wir müssen in Zukunft noch sehr viel genauer hinsehen als heute, wie medizinische Studien entstehen und welche Interessen damit verbunden sind. Da werden zum Beispiel immer noch Probanden aus Studien herausgenommen, weil sie nicht zum gewünschten Ergebnis beitragen. Das geht nicht.

Die Contergan-Stiftung verwaltet das Geld für die Geschädigten und steht gerade in der Kritik, Vertreter der Opfer berichten davon, dass das Verhältnis zur Stiftungsleitung gestört sei.

Auch da würde ich mir mehr Transparenz wünschen. Das Ziel der Stiftung ist es, auf den unterschiedlichen Bedarf der Betroffenen einzugehen, da müssen die Entscheidungen für alle nachvollziehbar sein. Und wir dürfen nicht vergessen, dass sich die Bedürfnisse der Opfer mit der Zeit verändern - wer, wie viele, ohne Arme und Beine klarkommen muss, nutzt, belastet und verschleißt seinen Körper ganz anders als ein Gesunder.

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Johanna Bruckner
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