Süddeutsche Zeitung

Chronische Schmerzen:Wenn das Leid kein Ende nimmt

Millionen Menschen haben dauerhaft Schmerzen - und finden keine Linderung. Viele Ärzte sind mit dem komplexen Phänomen überfordert und entwickeln nicht selten eine Abneigung gegen die Leidenden, bei denen ihre Kunst versagt. Die Patienten fühlen sich allein gelassen oder in die Psychoecke gestoßen. Dabei gibt es wirksame Hilfen für die chronisch Geplagten.

Christina Berndt

Oft fängt das Leiden ganz harmlos an. Am Computer zum Beispiel. Dort, wo viele Menschen tagtäglich ein bisschen zu lange, zu schief und zu verkrampft sitzen. Und nur weil sie sich dann am Ende eines verspannten Tages vielleicht nach einem heruntergefallenen Kugelschreiber bücken, zieht es plötzlich unerträglich im Lendenbereich. Solche akuten Rückenschmerzen haben zwei Drittel aller Deutschen mindestens einmal im Leben. Sie sind also wahrlich nichts Besonderes und verziehen sich meist auch von allein wieder. Häufig aber kehren die Schmerzen zurück, bleiben dann jedesmal länger, werden aufdringlich und machen Angst: Das wird wohl nicht der Beginn einer langen Leidensgeschichte sein?

Doch. Das ist es leider allzu oft. Dabei ist der Rücken solcher Schmerzgeplagten eigentlich ziemlich gesund. Bei Millionen Deutschen, die immer wieder unter Schmerzen leiden, ist aus einer Mischung an Gründen eines Tages der Punkt erreicht, an dem der Schmerz selbst zur Krankheit wird. Der Rücken ist gerade gar nicht verspannt; aber der Schmerz ist da. Er ist so unangenehm und angstbesetzt, dass er nicht mehr verschwinden will. Er wird zum ständigen Begleiter - für Monate, für Jahre.

Es sind solche Patienten mit chronischen Schmerzen ohne eindeutige körperliche Ursache, die dem Schmerzspezialisten Wolfgang Koppert von der Medizinischen Hochschule Hannover besonders am Herzen liegen. "Diese Menschen sind zugleich über-, unter- und fehlversorgt", beklagt Koppert. "Sie bekommen viel zu spät Hilfe und dann häufig die falsche." Als Präsident der Deutschen Schmerzgesellschaft möchte Koppert die Politik aufrütteln, mehr für die chronischen Schmerzpatienten zu tun, von denen es Schätzungen zufolge zwischen zwölf und 18 Millionen in Deutschland gibt.

Im Moment stehen die Chancen gut, dass nun wenigstens die richtigen Weichen gestellt werden. Nach jahrelangem Ringen soll die Schmerzmedizin zum Pflichtfach für Medizinstudenten werden. Über eine entsprechende Vorlage aus dem Bundesgesundheitsministerium beraten derzeit die Ausschüsse des Bundesrates. "Schmerztherapie wird im Rahmen vieler Fächer wie Orthopädie und Neurologie gelehrt. Aber sie muss auch endlich selbst Lehrstoff werden", fordert Koppert. Gerade chronische Schmerzen seien häufig nicht mehr das Symptom einer Krankheit, sondern hätten selbst Krankheitswert. Das aber wissen viele Ärzte nicht. "Schmerz ist ein so verbreitetes Phänomen in der Medizin", sagt der Orthopäde Hans-Raimund Casser, Leiter des DRK-Schmerzzentrums Mainz. "Jeder Arzt sagt: Natürlich behandle ich Schmerzen. Ich weiß doch, wie das geht."

Wer Pech hat, muss sich unnötigen Operationen unterziehen

Dabei sind die meisten Ärzte mit den chronischen Patienten überfordert, deren Leid sich mit konventionellen Methoden kaum heilen lässt. Im günstigen Fall schicken Ärzte die Betroffenen deshalb einfach wieder nach Hause und sagen ihnen, dass da nichts sei und sie sich nichts einbilden sollen. Im ungünstigen Fall behandeln sie sie, obwohl am Rücken wirklich nichts ist, und operieren sie zum Beispiel an der Wirbelsäule.

Es wäre schon ein großer Fortschritt, wenn Ärzte diese Patienten erkennen und an einen Fachkollegen weiterschicken würden", sagt der Anästhesist Andreas Kopf von der Berliner Charité. Er leitet eines von rund 150 deutschen Schmerzzentren. Hier und in den etwa 3000 Spezialpraxen, die eine Schmerzsprechstunde anbieten, weiß man, dass chronische Schmerzpatienten eine multimodale Therapie brauchen. Doch bevor die richtige Diagnose gestellt wird, irren die Patienten jahrelang von Praxis zu Praxis. "So entsteht viel Frustration", sagt der Orthopäde Casser, "bei Behandlern ebenso wie bei Betroffenen." Die Ärzte entwickelten oft eine Abneigung gegen diese Patienten, bei denen ihre Kunst versagt, und die Patienten fühlten sich "in die Psychoecke gestoßen".

Dabei spielt die Seele nur zum Teil eine Rolle, wenn Schmerzen chronisch werden. "Wir wissen heute, dass das keine psychiatrischen Patienten sind", betont Casser. Vielmehr hat sich die Pein im Gehirn festgesetzt. "Beim Schmerz ist es fatal, dass unser Nervensystem extrem lern- und veränderungsfähig ist", sagt Gerhard Müller-Schwefe, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Schmerztherapie. Gehirn und Rückenmark merken sich Schmerzreize, die etwa wegen einer falschen Haltung am Computer oder wegen eines verspannten Rückens immer wiederkehren. Es bildet sich ein Schmerzgedächtnis aus, das auch bestehen bleibt, wenn der Schmerzreiz nicht mehr vorhanden ist. "Wenn der Hexenschuss ins Kreuz jagt, denkt der Patient oft: Das war die falsche Bewegung", sagt Müller-Schwefe. "Dabei war sie nur der Auslöser. Die ganze Zeit hat sich der Patient schon falsch gehalten oder bewegt."

Die Seele muss dennoch meist mitbehandelt werden. Denn "Schmerz ist mehr als eine Nervenerregung", wie Andreas Kopf sagt. Oft kommt zum körperlichen Leid das psychische hinzu. "Der Patient hat Angst vor der Zukunft. Er wird auf Dauer sozial isoliert, weil er nicht an Unternehmungen teilnehmen kann. Am Ende droht der Verlust des Partners und des Arbeitsplatzes", erzählt Kopf. Noch dazu reagieren Schmerzgeplagte schon aufgrund biochemischer Prozesse besonders leicht gestresst.

Manchmal ist aber auch zuerst die seelische Pein da: Ein Mensch leidet schon lange unter Lieblosigkeit in der Partnerschaft oder fehlender Anerkennung im Beruf; dann kommt nur noch ein kleines körperliches Ereignis hinzu, er hebt zum Beispiel ein Paket, und der Rückenschmerz ist da und will nicht mehr fort. "Nicht der Schmerz macht das Leben unerträglich, sondern das Leben macht den Schmerz unerträglich", sagt Andreas Kopf und meint damit: Schmerz macht nur krank, wenn es zusätzliche Belastung in Beruf oder Familie gibt.

Tunnelblick auf einen Lendenwirbel

Schmerz ist ein komplexes Phänomen. Deshalb treffen Patienten in spezialisierten Schmerzzentren immer auf ein Team von Behandlern, die sich dem Leid mit Methoden der Schmerztherapie, der Psychologie und der Physiotherapie nähern. "Auf diese Patienten ist mehr noch als auf andere eine ganzheitliche Sicht nötig", so Kopf, "der Tunnelblick auf einen Lendenwirbel ist völlig unangebracht."

Was führende Schmerzexperten jetzt so selbstverständlich fordern, ist Folge eines langen Lernprozesses. Noch Mitte der 1980er Jahre verordneten Ärzte jedem zweiten Patienten, der sie wegen Rückenschmerzen aufsuchte, strikte Bettruhe. Inzwischen ist klar, dass das kontraproduktiv ist. Vielmehr sollten sie die Betroffenen zu Bewegung animieren - auch weil diese sich aus Angst vor neuem Leid oft ein Vermeidungsverhalten oder eine ungesunde Körperhaltung angewöhnt haben, was einen Teufelskreis in Gang setzt. "Eine gute Bewegungstherapie kann Abhilfe schaffen", sagt Kopf.

Dabei sollten Psychologen den Patienten auch die Angst vor der Bewegung nehmen, sagt Michael Pfingsten, Präsident der Deutschen Gesellschaft für psychologische Schmerztherapie: "Es ist wichtig, sie darüber aufzuklären, dass Rückenschmerzen meist einen gutartigen Charakter haben." Zu den befürchteten Lähmungen komme es fast nie.

Wer sich über den multifaktoriellen Hintergrund chronischer Schmerzen im Klaren ist, der muss auch nicht verzweifelt nach körperlichen Ursachen suchen. "Früher wurde häufig gelehrt, dass der Arzt vor jeglicher Schmerzbehandlung erst die Ursache genau abklären müsste, damit er sie nicht kaschiert", sagt Hans-Raimund Casser. "Heute sehen wir es als vorrangige Pflicht des Arztes an, den Schmerz zu lindern."

Ohnehin bringen Durchleuchtungsmethoden wie Röntgen und Kernspintomographie zwar häufig ein Bild vom Schmerz, aber ein falsches. "Auf den Bildern sieht man viel - oft mehr als nötig", sagt Michael Pfingsten. So werden häufig Alterserscheinungen erkennbar, die mit den Beschwerden gar nichts zu tun haben. "Veränderungen, wie man sie auf Röntgenbildern sieht, finden sich auch bei Menschen, die gar keine Schmerzen haben", sagt Pfingsten.

Daher ist die körperliche Untersuchung wichtiger als die Bildgebung. Nur so lässt sich erkennen, ob etwa die Muskulatur zu schwach ist oder Muskeln und Bänder zu schlecht zusammenarbeiten. Dabei untersucht der Arzt den Rücken mit den Händen und schaut sich auch den Gang seines Patienten an. Durchleuchtet wird erst, wenn die Untersuchungen einen Hinweis auf körperliche Ursachen geben, so Pfingsten. "Aber mehr als 90 Prozent der chronischen Schmerzpatienten haben eben keinen organischen Schaden. Deshalb gehören diese Patienten auch nicht unters Messer."

Trotzdem wird geschnippelt, was das Zeug hält. "80 Prozent der Patienten, die am Rücken operiert werden, bräuchten gar keine Operation", betont der Bremer Schmerztherapeut Hubertus Kayser, der im Auftrag von Krankenkassen Zweitmeinungsverfahren durchführt. Das liegt nicht nur an den Ärzten, sondern auch an den Patienten, die auf einen Eingriff dringen, weil sie sich davon Rettung erhoffen. So kommt es, dass in Deutschland doppelt so viele Wirbelsäulenoperationen vorgenommen werden wie in England und sogar dreimal so viele wie in Frankreich. Doch am Ende ergeht es den Patienten meist nur schlechter.

Der Zustand der Schmerzmedizin in Deutschland ist eine menschliche und ökonomische Katastrophe", sagt Gerhard Müller-Schwefe. Rückenschmerzen verursachten nicht nur unermessliches Leid, sondern auch Kosten in Höhe von 50 Milliarden Euro pro Jahr. Davon entfällt aber nur etwa ein Viertel auf die Behandlung der Patienten; der Rest wird für Sozialausgaben wie Frühverrentung und Arbeitsunfähigkeit aufgewendet.

Dabei ließe sich aus Müller-Schwefes Sicht vieles leicht besser machen. Das zeige der Erfolg der "Integrierten Versorgungsprogramme" einiger Krankenkassen. Das Wichtige daran: Die Kassen bieten Patienten schon eine multimodale Behandlung an, sobald diese wegen Rückenschmerzen nur vier Wochen krankgeschrieben sind. Wer sich auf das Programm einlässt, kann nach fünf Tagen eine Behandlung in einem Schmerzzentrum beginnen.

Vier oder acht Wochen lang wird er dort täglich mehrere Stunden lang von Schmerztherapeuten, Psychologen und Krankengymnasten betreut. "Danach gehen Studien zufolge 87 Prozent der Patienten wieder arbeiten", sagt Müller-Schwefe, "ohne das Intensivprogramm sind es nur 30 Prozent." Weshalb sich die Programme nicht stärker durchgesetzt haben, ist dem Schmerzmediziner ein Rätsel: "Die Krankenkassen sparen damit sogar - und für die Patienten sind die Maßnahmen ein Segen. Sie werden aus der Isolation zurück ins Leben geholt."

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.1318800
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 27.03.2012/beu
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.