Soeben hat Christian Drosten einen Sonderpreis für seine unermüdliche Kommunikation über das neue Coronavirus erhalten. Trotz vieler Interviews und Auftritte bleibt er seinen wissenschaftlichen Prinzipien treu.
SZ: Herr Drosten, Sie haben die Öffentlichkeit schon in früheren Epidemien über virologische Zusammenhänge informiert. Was ist in der aktuellen Krise anders?
Christian Drosten: Ich habe bald gemerkt, dass in dieser Krise viel Information verloren geht. Ich hatte über den Januar und Februar versucht, deutliche Warnungen auszusprechen - ohne Panik zu verbreiten. Aber aus den Interviews wurde viel herausgeschnitten. Mich hat das geärgert, ich habe da jeweils viel Zeit investiert. Irgendwann nahm das auch zeitlich überhand, ich habe jedes Interview sechsmal gegeben - und meine Frau war genervt, weil ich beim Frühstück immer wieder nach nebenan gehen musste, für Interviews. Auch da wurde verkürzt, der Kontext verändert.
Manch mal machen Verkürzungen die Dinge auch klarer. Müssen Sie sich ein dickeres Fell zulegen?
(Lacht) Ja, vielleicht ist es schon dicker geworden. Letzte Woche zum Beispiel gab es eine Pressekonferenz mit dem Präsidenten des Paul-Ehrlich-Instituts, Klaus Cichutek. Ich war vorher in einer Talkshow gefragt worden, wie es denn jetzt weitergehen wird in den kommenden Monaten, und da habe ich über Contact-Tracing per Mobilfunk gesprochen, weil ein Impfstoff in diesem Zeitraum - also im Sommer - Träumerei ist. Und dann wurde Cichutek auf der Pressekonferenz gefragt: Drosten sagt, Impfstoffe sind Träumereien. Was sagen Sie denn dazu? Natürlich hat er gesagt: "Das ist keine Träumerei, da wird dran gearbeitet, bald gehen die ersten Studien los." Das heißt trotzdem nicht, dass wir im Sommer einen Impfstoff haben werden. Aber am nächsten Tag schreibt keine geringere Zeitung als die FAZ: "Cichutek widerspricht Drosten". Ich habe mich dieses Mal nicht beschwert.
Inzwischen kommunizieren Sie hauptsächlich über einen ungeschnittenen Podcast. Hat sich auch da etwas verändert?
Am Anfang konnte ich aus dem Nähkästchen plaudern, da habe ich Grundwissen von mir gegeben. Das ist inzwischen nicht mehr so. Ich lese manchmal 40, 50 vorveröffentlichte Studien zur Vorbereitung. Es wird ja jetzt viel mehr argumentiert mit wissenschaftlichen Befunden. Zuletzt, was die Häufigkeit von Antikörpern in der Bevölkerung betrifft, die Hintergrundprävalenz. Da sind jetzt viele kleine Studien herausgekommen, zum Beispiel aus Santa Clara in Kalifornien, zu denen es in etwa hieß: "Ah ja, wir sind doch mindestens auf dem Weg zur Bevölkerungsimmunität." Da kann ich nicht sagen: Nee, das glaube ich nicht. Ich muss die Studien lesen und begründen, warum das nicht so ist.
Die erste dieser kleinen Studien war die sogenannte Heinsberg -Studie, die mit ihren Zwischenergebnissen einige Verwirrung ausgelöst hat - auch bei Ihnen.
Diese Geschichte ist für mich zweilagig. Das eine ist die Kommunikation, und das andere ist die Wissenschaft.
Fangen wir mit der Kommunikation an.
Es hatte vor Ostern diese Pressekonferenz gegeben, und plötzlich war die Botschaft draußen, dass 15 Prozent der Bevölkerung immun sind. Das wurde auch gleich generalisiert. Und es geschah in Anwesenheit von Herrn Laschet, war also schon vollkommen politisch. Aber es gab kein Manuskript mit Daten. Und auf einem Pressebriefing des Science Media Center am gleichen Tag habe ich dann gesagt: "Dazu kann man so gar nichts sagen, wir kennen den Hintergrund nicht." Man hatte ja nur eine Zahl genannt bekommen und musste die dann einfach mal glauben.
"Da weiß ich nicht mehr, was ich noch denken soll. Das hat mit guter wissenschaftlicher Praxis nichts mehr zu tun."
Warum ist das Manuskript so wichtig?
Aus Santa Clara zum Beispiel haben wir die Daten. Die können wir Wissenschaftler nehmen und uns darüber austauschen - ob das so stimmt mit der Sensitivität von diesem Antikörpertest, ob das wirklich gut ist, dass Freiwillige getestet wurden. Darüber kann man dann diskutieren und zu einem Konsens kommen in der Community. Im Moment heißt dieser Konsens aus den Studien, zu denen wir Manuskripte haben: Mit zwei zugekniffenen Augen bewegen wir uns hinsichtlich der Immunität vielleicht im niedrig einstelligen Prozentbereich der Bevölkerung.
Die Heinsberg-Studie kommt zu einem anderen Ergebnis. Sie wurde zudem schon im Vorfeld als richtungsweisend für die Politik gehandelt, es war sogar eine Social-Media-Agentur des ehemaligen Bild -Chefredakteurs Kai Diekmann involviert.
Ich finde das alles total unglücklich - und ich finde es noch schlimmer, wenn ich dann den Bericht im Wirtschaftsmagazin Capital darüber lese, dass diese PR-Firma Geld bei Industriepartnern eingesammelt hat, um die öffentliche Meinung zu beeinflussen. Da geht es auch um ein internes Dokument, demzufolge Tweets und Aussagen des Studienleiters Hendrik Streeck in Talkshows schon wörtlich vorgefasst waren. Da weiß ich einfach nicht mehr, was ich noch denken soll. Das hat mit guter wissenschaftlicher Praxis nichts mehr zu tun. Und es zerstört viel von dem ursprünglichen Vertrauen der Bevölkerung in die Wissenschaft.
Ist die Studie damit denn hinfällig?
Die Wissenschaft an sich ist erst mal nicht zu kritisieren auf der momentanen Basis. Es gibt ja immer noch keine genauen Informationen. Deshalb kann man auch nicht über diese Zwischenergebnisse sprechen.
Hat Hendrik Streeck Ihnen inzwischen Details über die Studie zukommen lassen?
Wir haben telefoniert, und ich habe Auszüge der Daten bekommen - und die lassen erkennen, dass die Studie an sich seriös ist und gut werden könnte. Aber wenn einzelne Wissenschaftler im Hintergrund irgendwelche Daten gezeigt bekommen und dann sagen, okay, das geht vielleicht in die richtige Richtung, dann reicht das ja nicht dafür aus, um politische Entscheidungen zu treffen.
Hier hat es aber von vornherein ein politisches Kalkül gegeben.
Hendrik Streeck sagt, er gehe da völlig ergebnisoffen ran. Aber wenn das stimmt mit dem internen Papier der PR-Agentur, dann war das überhaupt nicht ergebnisoffen. Sondern eine von vornherein geplante Botschaft, die man sich kaufen konnte.
Und für die man dann den passenden Ort wählte.
Gangelt im Kreis Heinsberg ist ein Hochprävalenzgebiet. In der Pressekonferenz wurde immerhin einmal gesagt, dass das nicht repräsentativ ist. Aber vorher ist das so nicht kommuniziert worden. Da hieß es, das sei die Erstregion, hier könne man untersuchen, wie die Zukunft aussieht. Man hat auch gesagt, man wolle Fakten schaffen. Aber als Wissenschaftler schafft man keine Fakten, sondern will Fakten untersuchen oder identifizieren.
Sie halten sich selbst meist eher zurück mit Einschätzungen zur Politik. Die Wissenschaftsjournalistin Mai Thi Nguyen-Kim hat Sie dafür kritisiert. Sie sagt, Wissenschaftler müssten auch politische Entscheidungen wissenschaftlich einordnen.
Ich gebe ihr Recht. Aber ich frage mich dann, wo jetzt eigentlich die Wirtschaftswissenschaftler sind. Da spricht ein Arbeitgeberpräsident, aber die wissenschaftlichen Experten aus der Wirtschaft sind nicht sichtbar. Ich lese von denen nicht einmal die verkürzten Botschaften in der Zeitung, wie es sie von "den Virologen" ja gibt.
Nun wird nicht nur von der Wirtschaft viel über Lockerungen diskutiert. Man bekommt den Eindruck, dass deshalb viele die Maßnahmen schon lockerer sehen.
Es gibt sogar die Behauptung, die Kontaktsperren seien gar nicht nötig gewesen. Da wird dann darauf verwiesen, dass der R-Wert, die Reproduktionsrate, schon vor Beginn der Maßnahmen gesunken sei. Und daraus wird gefolgert, dass sich die Epidemie von selbst eingedämmt habe. Erstens glaube ich, dass der R-Wert durch die starke Änderung der Testzahlen im März verfälscht ist. Und Ranga Yogeshwar hat ein interessantes Video gemacht, mit Mobilitätsdaten von Apple. Die zeigen deutlich, dass die Informationen und Warnungen dazu geführt haben, dass die Menschen die Maßnahmen praktisch vorweggenommen haben. Ich erinnere mich gut daran, Mitte März waren die Straßen in Berlin praktisch schon leer.
Das spricht doch dafür, dass die Be völkerung gut mitmacht.
Dieser Erfolg wird jetzt aber missbraucht als Argument, dass man das alles doch hätte lassen können. Das wird dann noch zusammengerührt mit der angeblichen Abwesenheit einer Übersterblichkeit. So, als gäbe es das doch alles gar nicht. Das spielt gewissen politischen Kräften in die Hände, die sagen, man müsse der Wirtschaft eine Chance geben. Obwohl man der Wirtschaft vielleicht gerade die Chance nimmt, weil die Kontaktsperren womöglich umso härter wieder eingeführt werden müssen. Ich mache mir wirklich Sorgen, wenn ich Vertreter der Wirtschaft höre, die praktisch sagen, von dieser Lockerung weichen wir jetzt keinen Millimeter zurück. Als wäre das Verhandlungssache. Aber wenn überhaupt, dann verhandelt man da mit der Natur, nicht mit einem Virologen.
Verhandelt werden derzeit auch Gerüchte , etwa die Theorie, das Virus sei durch einen Unfall aus einem Labor in Wuhan in die Welt gekommen.
Diese Fledermaus-Coronaviren, die dem neuen Erreger ähnlich sind, existieren nur in Hufeisennasenfledermäusen - und die hält man nicht einfach mal so im Labor. Man infiziert sich in einem Labor auch nicht einfach mal aus Versehen mit so einem Virus. Und dann geht ein Fledermausvirus auch nicht einfach auf den Menschen über, da gibt es eine Anpassungsbarriere. Für mich klingt das, soweit ich es überhaupt sagen kann, äußerst unplausibel.
Steht denn überhaupt fest, dass der Erreger aus Fledermäusen stammt?
Man kann eigentlich zum Ursprung nicht wirklich etwas sagen, solange man es nicht untersucht. Wenn das Virus aus Zwischenwirten kommt, die auf dem Markt in Wuhan gehandelt wurden, kann man auch nicht sagen: Die haben wir gekeult und können sie nicht mehr beforschen. Das stimmt ja nicht. Solche Viren kochen nicht auf einem Markt hoch, sondern dort, wo die Tiere gezüchtet oder gefangen werden. Schleichkatzen, Marderhunde, solche Tiere. Marderhunde sind eine Industrie in China, da gibt es Zuchtbetriebe, die diese Märkte beliefern. Dort könnte man mal hingehen und ein paar Tausend Tiere beproben. Ich verstehe nicht, warum es dazu noch keine Daten gibt. Da würde ich einfach gern einmal eine Studie sehen.