China:Wie die Tabakindustrie die Wissenschaft unterwandert

In China findet ein Kampf statt, den der Westen schon hinter sich hat: Seit Jahrzehnten sucht die Tabakindustrie dort nach Wegen, um ihre Produkte weniger schädlich erscheinen zu lassen als sie tatsächlich sind.

Mara Hvistendahl

Am 8. Dezember widerfuhr Xie Jianping eine große Ehre und eine schwere Demütigung. Zuerst wurde der Forscher in die Chinesische Akademie der Ingenieurswissenschaften gewählt, Stunden später erhob sich im Internet ein Sturm der Entrüstung.

A man smokes at an office in Shanghai

China hat 300 Millionen Raucher. Im Jahr 2010 qualmten dort 53 Prozent der Männer im Alter von 15 bis 69 Jahren.

(Foto: REUTERS)

Als erster kritisierte der Blogger Liu Zhifeng die Auszeichnung eines Wissenschaftlers, dessen Forschung genutzt werde, um "Menschen effektiver umzubringen". Das Akademiemitglied Chen Junshi, ein Experte für Nahrungsmittelsicherheit, zeigte sich "beschämt" über Xies Wahl. Und Wang Ke'an, früher Präsident der Chinesischen Akademie für vorbeugende Medizin sagte, Xies Forschung "fehlt eine wissenschaftliche Basis. Sie führt die Öffentlichkeit in die Irre." Der Angegriffene selbst wollte sich auf Anfrage nicht zu den Vorwürfen äußern.

In der scharfen Kritik an Xie und seiner Ernennung entlädt sich die Verärgerung darüber, wie die chinesische Tabakindustrie mit Rückendeckung des Staates in die Forschung eingreift. Xie ist stellvertretender Direktor des Tabak-Forschungsinstituts in Zhengzhou, das dem nationalen Tabakkonzern CNTC gehört. Er arbeitet an sogenannten teerreduzierten Zigaretten und wird darum beschuldigt, Komplize eines betrügerischen Tabakmarketings zu sein. Damit hätte China einen internationalen Vertrag verletzt: Die 2005 ratifizierte Rahmenvereinbarung zur Tabakkontrolle verbietet verharmlosende Hinweise wie etwa "leicht" in Zusammenhang mit Zigaretten.

In China findet zurzeit ein Kampf statt, den der Westen schon hinter sich hat. "Seit Jahrzehnten sucht die Tabakindustrie nach Wegen, um ihre Produkte weniger schädlich erscheinen zu lassen als sie tatsächlich sind'', sagt Armando Peruga von der Weltgesundheitsorganisation. Seit den 1990er-Jahren gerieten in den USA wie in Europa Forscher und Universitäten in die Kritik, weil sie Geld von Tabakfirmen angenommen hatten.

Ein Jahrzehnt später gab es wegen Produkten mit angeblich "reduziertem Risiko" ähnliche Vorwürfe. "Genau an diesem Punkt ist China jetzt", sagt der Kardiologe Stanton Glantz von der University of California in San Francisco, der seit 1978 gegen die Tabakindustrie kämpft und 50 Millionen Seiten ihrer einst geheimen Dokumente herausgegeben hat.

China hat 300 Millionen Raucher. Im Jahr 2010 qualmten dort 53 Prozent der Männer im Alter von 15 bis 69 Jahren. Und die Regierung ist sowohl für die Kontrolle wie für den Vertrieb von Tabak verantwortlich - die CNTC wird von der Staatlichen Monopolverwaltung betrieben. Die Tabakumsätze im Jahr 2010 betrugen mehr als 50 Milliarden Euro.

Die beiden Organisationen produzieren Hunderte Zigarettenmarken von der gängigen Marke "Doppeltes Glück" bis zur exklusiven "Chunghwa". Und sie verantworten gemeinsam Investitionen der Industrie in wissenschaftliche Institute. "In anderen Ländern", sagt Wang, "stellen die Regierungen für diese Art Forschung kein Geld bereit."

Schulen tragen Namen von Tabakfirmen

Chinas Tabakindustrie muss offenbar kaum jemanden fürchten. "Ihre Behauptungen im Marketing sind viel, viel aggressiver als alles, was jemals in den USA zu hören war", sagt Glantz. Zur Werbung gehört es auch, Stipendien für Universitäten zu vergeben und Grundschulen zu unterstützen. Mehr als 100 Schulen trugen 2010 die Namen von Tabakfirmen, zeigte eine Untersuchung des chinesischen Zentrums für Krankheitsbekämpfung und Prävention CDC.

Dessen frühere Chefin Yang Gonghuan, inzwischen Professorin am Peking Union Medical College, untersucht mittlerweile, wie Tabakfirmen die Forschung unterwandern. Und obwohl sie die Verquickung von Tabakmonopol und -industrie ergründet und die Folgen von Passivrauchen erforscht hat, überrascht es sie, wie dreist sich die Firmen in die Wissenschaft drängen. "Im Ausland wissen die Unternehmen, dass solche Aktivitäten illegal sind, und machen es heimlich. Hier ist das ganze Material öffentlich."

Der Anstoß kam offenbar vom amerikanischen Konzern Philip Morris, der 1996 in Erwartung einer großen WHO-Studie ein asiatisches Team von Tabakwissenschaftlern zusammenrief. Weil die Tabakfirmen der Region meist Staatsmonopole besaßen und mangels Wettbewerb nicht sehr auf ihre öffentlichen Äußerungen achten mussten, "fürchteten die Konzerne aus dem Westen, die Asiaten könnten zugeben, dass Rauchen schädlich ist", sagt Glantz.

In China begann die Industrie erst 2001, ihr genehme Forschung zu finanzieren, sagt Yang. Damals erwog die Regierung, die Rahmenvereinbarung zur Tabakkontrolle zu unterschreiben. Auf regulären Konferenzen entwickelte eine Arbeitsgruppe um das Tabak-Forschungsinstitut in Yunnan innerhalb der folgenden fünf Jahre eine Strategie. So veranstaltete es 2004 ein Forum über risikoarme Zigaretten, zu dem auch Mitglieder der Chinesischen Akademie der Wissenschaften kamen.

Schließlich erstellten die Tabakforscher einen 442-Seiten-Report, den sie kurz nach Inkrafttreten der internationalen Rahmenvereinbarung auch publizierten. Er beschreibt im Detail "Gegenmaßnahmen" zur Konvention. Zum Beispiel empfiehlt das Werk als Reaktion auf Artikel 11 des Vertrags, der Aufdrucke wie "leicht" oder "wenig Teer" verbietet, mittels industriefinanzierter Forschung stattdessen eigene Begriffe und Standards zu entwickeln.

Parallel dazu wurde das Budget deutlich erhöht. Allein 2009 hat die staatliche Tabakindustrie 33 Millionen Euro in die Forschung gesteckt. Die Zahl der Studien, die von Zigarettenfirmen finanziert oder publiziert wurden, ist innerhalb von zwanzig Jahren auf das achtfache angewachsen: von 576 in den Jahren 1982 bis 1987 auf 4810 im Zeitraum 2002 bis 2007. Bei den zugehörigen Publikationen stieg zugleich der Anteil der Autoren aus akademischen Institutionen - von sechs auf 48 Prozent. Die Tabakforschung ist gut vernetzt. Das Institut in Zhengzhou, wo Xie arbeitet, hat zum Beispiel ein gemeinsames Promotionsprogramm mit der Chinesischen Akademie der Wissenschaften.

Die Strategie scheint aufzugehen. In einer Umfrage, die das chinesische Gesundheitszentrum CDC im Jahr 2010 für die WHO gemacht hat, wussten 86 Prozent der Befragten nicht, dass Zigaretten mit "wenig Teer" genauso schädlich sind wie andere Marken. Studierte Befragte machten sich sogar besonders häufig falsche Vorstellungen von den Gesundheitseffekten der teerreduzierten Zigaretten. "Sie sind einer irreführenden Propaganda ausgesetzt worden", sagt Yang Gonghuan.

Auch in der Debatte über Xies Wahl in die Ingenieursakademie ist die Behauptung zu hören: "Zigaretten mit weniger Teer und eine Reduktion der Schädlichkeit sind notwendige Schritte, um unser Problem mit dem Rauchen zu lösen", begründete das Akademiemitglied Wei Fusheng in der Tageszeitung Nanjing Daily seine Stimme für den umstrittenen Kollegen. Gesundheitsforscherin Yang fordert nun Xies Rauswurf aus der Akademie. Ob das klappt, ist offen, aber immerhin macht ihr der aktuelle Aufruhr Mut: Als 1997 Xies Mentor Zhu Zunquan gewählt wurde, habe niemand öffentlich protestiert.

Dieser Text erscheint im Original in der aktuelle Ausgabe von Science, dem internationalen Wissenschaftsmagazin, herausgegeben von der AAAS. Weitere Informationen: www.sciencemag.org, www. aaas.org. Dt. Bearbeitung: cris

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