Schutzsuchende in der Ukraine:Nacht für Nacht in den Untergrund

Schutzsuchende in der Ukraine: Menschen in Charkiw suchen in den U-Bahn-Stationen Schutz vor russischen Angriffen.

Menschen in Charkiw suchen in den U-Bahn-Stationen Schutz vor russischen Angriffen.

(Foto: Felipe Dana/dpa)

In den U-Bahn-Stationen der ukrainischen Stadt Charkiw suchen jeden Abend unzählige Menschen Schutz. Manche verlassen die Bahnhöfe gar nicht mehr. Frauke Ossig, Nothilfekoordinatorin von Ärzte ohne Grenzen, über die Not unter der Erde und die Verletzlichsten in diesem Krieg.

Interview von Berit Uhlmann

Frauke Ossig hat für die Organisation Ärzte ohne Grenzen Hilfe für Menschen in der ukrainischen Stadt Charkiw organisiert und ist gerade aus dem Land zurückgekehrt. Einer der wichtigsten Einsatzorte für die Teams sind die U-Bahnhöfe, in denen die Einwohner jede Nacht Schutz suchen.

SZ: Frau Ossig, Sie sind in vielen Krisenregionen gewesen, was ist in Charkiw anders?

Frauke Ossig: Jeder Einsatz ist einzigartig. Ungewöhnlich am Einsatz in Charkiw ist vor allem das Leben im Untergrund. Also die vielen Menschen, die sich in den U-Bahn-Stationen aufhalten und die wir dort versorgen. Wir haben bis zu 700 Menschen pro Nacht in einer Station gesehen.

Wie lange halten sich die Menschen dort auf?

In Charkiw gibt es etwa vier- bis fünfmal pro Nacht Luftalarm. Dann suchen viele Menschen Schutz in den U-Bahnhöfen, durch die seit Wochen keine Züge mehr kommen. Etliche der Schutzsuchenden bleiben die ganze Nacht da, weil es in der Stadt eine Ausgangssperre von sechs Uhr abends bis sechs Uhr morgens gibt. Zum Teil sind die U-Bahn-Stationen dann auch abgeschlossen. Die Anwohner begeben sich also vor Beginn der Ausgangssperre in die Stationen, legen ihre Matratzen auf den Boden, übernachten dort und gehen am Morgen wieder heim oder zur Arbeit. Es gibt aber auch zahlreiche Einwohner, die sich gar nicht mehr trauen, die Stationen zu verlassen. Vor allem im Nordosten der Stadt, wo es viele Bombardierungen gibt, leben Menschen seit Tagen oder auch Wochen in den Metro-Stationen. Dann gibt es Menschen aus den Regionen um Charkiw herum, deren Häuser zerstört wurden und die in die Stadt geflohen sind, aber niemanden haben, zu dem sie gehen können. Sie bleiben dauerhaft in den Stationen, weil sie dort Sicherheit und ein Minimum an Versorgung finden.

Wie sieht es mit Wärme, Stromversorgung und Sanitäranlagen aus?

Es ist kalt in den Stationen, sie sind nicht durchgehend beheizt. Es gibt hin und wieder Stromausfälle, aber meistens ist Strom da. Und es gibt Hilfe. Die Solidarität in der Bevölkerung ist extrem groß. Freiwillige und Hilfsorganisationen bringen Betten, Decken, Essen, Papier und Stifte für die Kinder. Die Toiletten in den Bahnhöfen reichen eigentlich nicht. Aber die Menschen arrangieren sich und gehen sehr verantwortungsbewusst mit der Situation um. Die Anlagen sind für die Verhältnisse sehr sauber. Aber an Duschen fehlt es für jene, die permanent in den Schächten sind. Das wird zum Problem.

Schutzsuchende in der Ukraine: Frauke Ossig arbeitet seit zwölf Jahren für Ärzte ohne Grenzen. Seit sieben Jahren ist sie als Notfallkoordinatorin für die Organisation tätig. Zu ihren Einsatzorten gehörten Syrien, Jemen, Bangladesch, Sierra Leone, Armenien, Belarus und die Kaschmir-Region.

Frauke Ossig arbeitet seit zwölf Jahren für Ärzte ohne Grenzen. Seit sieben Jahren ist sie als Notfallkoordinatorin für die Organisation tätig. Zu ihren Einsatzorten gehörten Syrien, Jemen, Bangladesch, Sierra Leone, Armenien, Belarus und die Kaschmir-Region.

(Foto: privat/privat)

Wie haben Sie die Stimmung in den U-Bahn-Stationen erlebt?

Es ist ruhig, fast zu ruhig. Man spürt die enorme Anspannung, unter der die Menschen stehen, und die extremen Erfahrungen, die sie gemacht haben. Wir sehen mehr und mehr psychologische Beschwerden. Viele Menschen in den unterirdischen Tunneln können nicht schlafen. Sie leben in ständiger Furcht, dass die russischen Truppen näher rücken. Viele sind zudem traumatisiert. Die Trennung von Familien ist ein Problem. Manchmal können Menschen ihre Angehörigen nicht mehr erreichen. Dann steigen Nervosität und Angst weiter.

Wie können Sie helfen?

Wir sind teilweise die ganze Nacht in den Stationen und haben auch Psychologen im Team. Wir sagen den Schutzsuchenden: "Wir sind die ganze Zeit hier. Sie können zu uns kommen." Das Reden hilft den Menschen. Aber es ist nur eine erste Entlastung. Die Betroffenen werden langfristige psychologische Unterstützung brauchen.

Welche Beschwerden haben Sie noch gesehen?

Zu uns kommen vor allem Patienten mit chronischen Krankheiten wie Bluthochdruck, Diabetes und Schilddrüsenerkrankungen. Wir kennen das aus anderen Kriegen und Konflikten: Den Menschen gehen die Medikamente aus, und die Situation kann schnell lebensbedrohlich werden. Auch dies trägt zur Angst der Einwohner bei. Wir haben einen Mann erlebt, der seine Bluthochdruckmedikamente geviertelt hat, damit er länger damit auskommt. Das ist ein Zeichen, dass die Menschen gar keine Sicherheiten mehr haben. Dass sie nicht mehr wissen, was in den nächsten Tagen mit ihnen passiert. Diese Anspannung der Erkrankten spürt man ganz extrem.

Der Anteil an chronisch Erkrankten und alten Menschen ist relativ hoch in Ukraine ...

Ja, und die alten Menschen sind aktuell die verwundbarsten. Sie sind ja am wenigsten flexibel. Manche haben ihre Familien zur Flucht animiert, konnten oder wollten aber nicht mitgehen. Sie sitzen nun allein zu Hause, die Fahrstühle funktionieren nicht mehr, die Treppen schaffen sie nicht. Sie sind damit auch von medizinischer Versorgung abgeschnitten. Unsere Teams versuchen daher mit Hilfe von Freiwilligen aus der Stadt, diese Menschen zu identifizieren, und gehen tagsüber zu ihnen, wenn der Dienst in den U-Bahn-Stationen beendet ist.

Sehen Sie auch viele Verletzte?

Verletzte werden hauptsächlich in den Kliniken behandelt. Die Krankenhäuser und die Krankentransporte funktionieren noch. Wir lassen daher Verwundete in die Kliniken bringen.

Und was ist mit Corona?

Corona ist für die Menschen in der Ukraine aktuell kein sehr großes Thema. Wir sehen viele Menschen mit Atemwegserkrankungen und behandeln die Symptome, so gut wir können. Aber es gibt nicht genügend Möglichkeiten, um zu testen, ob es sich um Corona oder eine andere Infektion handelt.

Wo stoßen Sie mit Ihren Möglichkeiten an Ihre Grenzen?

Grenzen werden uns vor allem durch die Kämpfe gesetzt. Wir können nicht immer alle Gebiete erreichen. Es gibt ja ständig Warnungen vor neuen Angriffen. Wir müssen dann immer wieder umplanen, denn wir müssen ja auch die eigenen Mitarbeiter schützen.

Wie sorgen Sie für die eigene Sicherheit?

Oft bleiben wir nachts in den U-Bahn-Stationen, auch um Zeit für die Menschen dort zu haben. Wir hatten aber mehrmals die Situation, dass wir die Stationen morgens nicht verlassen konnten, weil es schon wieder Alarm gab. Wir laufen dann durch die Tunnel zur nächsten Station, um dort zu helfen. Aber bei allem sind wir den gleichen Unsicherheiten ausgesetzt wie die Einwohner von Charkiw. Wir wissen nicht, wann und wo die nächsten Bombardierungen stattfinden. Diese Unvorhersehbarkeit ist extrem schwer für alle dort.

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