Blutplasma:Flüssiges Gold

Größte Blutbank in Europa

Die Nachfrage an Blutplasma steigt weltweit.

(Foto: dpa)
  • Medikamente, die aus dem Blutplasma von Spendern hergestellt werden, gewinnen immer mehr Bedeutung in der Medizin.
  • An Spendern aber mangelt es - vor allem in Europa.
  • Europa importiert daher viel Plasma aus den USA - und ist angesichts der politischen Lage über diese Abhängigkeit besorgt.

Von Stefanie Dodt und Astrid Viciano

Ihre Hände, sie wollten plötzlich nicht mehr. Als ob jemand ihren Muskeln heimlich alle Energie geraubt hätte, verlor Barbara Böhm an Weihnachten vergangenen Jahres ihre Kraft. Knöpfe konnte sie nicht mehr schließen, ihre Schnürsenkel nicht mehr binden. "Mein Mann musste mir beim Ankleiden helfen, so hilflos war ich", sagt die 67-jährige Patientin aus Langenhagen bei Hannover.

Sie hatte ihre Therapie wegen einer Infektion zweimal verschieben müssen, statt des üblichen Intervalls von vier Wochen waren seit der letzten Sitzung fast zwei Monate vergangen. Dann endlich konnte sie wieder zur Medizinischen Hochschule in Hannover (MHH) fahren, um ihre Behandlung zu erhalten: Eine Infusion mit Antikörpern, sogenannte Immunglobuline vom Typ G. Aufgewühlt wartete die sonst so gefasste Frau das Ende der Therapiesitzung ab. Würde die Kraft zurückkehren? Schon am nächsten Tag konnte sie aufatmen - ihre Hände machten wieder besser mit. "Seither weiß ich, wie lebenswichtig die Behandlung für mich ist", sagt Böhm.

Barbara Böhm leidet an einer chronisch fortschreitenden Nervenerkrankung, der sogenannten CIDP. Fehlgeleitete Immunzellen, so vermuten Experten, zerstören dabei die Hüllen der Nervenbahnen, sodass die Weiterleitung der Nervenimpulse nicht mehr richtig funktioniert. Seit zehn Jahren ist eine Antikörper-Therapie zur Behandlung dieser und ähnlicher Leiden in Europa zugelassen. Diese Nervenerkrankungen stellen ein großes neues Einsatzgebiet der Immunglobuline dar, zusätzlich zu den Immunschwächen, die seit den 1960er-Jahren damit behandelt werden. "Der Bedarf ist daher in den vergangenen Jahren stark angestiegen," sagt Neuroimmunologe Martin Stangel von der Medizinischen Hochschule Hannover.

2018 wurden mehr als sechs Millionen Liter Plasma aus den USA nach Deutschland importiert

Kam die Antikörper-Therapie früher vor allem in den USA, Kanada und Westeuropa zum Einsatz, können sich die teure Behandlung inzwischen auch aufstrebende Länder aus dem Nahen Osten oder Lateinamerika leisten. Das Problem dabei: Antikörper können nicht künstlich hergestellt werden. Sie stammen aus dem Blutplasma von Menschen, die sich zu einer Spende entschlossen haben. Die Anzahl der Plasmaspender stagniert in Deutschland aber seit Jahren, auch andere EU-Länder tun sich schwer, Menschen zu einer Spende zu bewegen. "Blutplasma ist ein rares Gut", sagt Stangel. Daher ist auch die Menge an Medikamenten begrenzt, die sich daraus herstellen lassen. Und Kliniken in Deutschland wie in anderen Ländern ringen zunehmend darum, genügend Präparate für ihre Patienten zu erhalten.

Nur eine Handvoll Firmen dominieren den Markt, sie gewinnen einen Großteil des weltweit verfügbaren Blutplasmas in den USA und lassen daraus in Produktionsanlagen Medikamente wie besagte Antikörper-Infusionen herstellen. Wie sich die EU auf diesem umkämpften globalen Markt künftig positionieren soll, haben Experten des Europarats wie der Europäischen Kommission mit Vertretern von Blutspendezentren und Plasmaunternehmern im Januar 2019 diskutiert. Die daraus entstandenen Empfehlungen sollen in den kommenden Wochen erstmals veröffentlicht werden.

Wie Ärzte und Patienten in Deutschland und anderen EU-Ländern die Medikamentenknappheit bislang erleben, haben Reporter von SWR, NDR und Süddeutscher Zeitung recherchiert. "Es ist klar, dass etwas geschehen muss", sagt Paul Strengers, ehemaliger medizinischer Leiter der Abteilung für Plasmaprodukte des niederländischen Blutinstituts Sanquin.

Allein im vergangenen Jahr stiegen die Preise um etwa 30 Prozent

Im Jahr 2018 wurden mehr als sechs Millionen Liter Plasma aus den USA nach Deutschland importiert. Im Jahr 2000 waren es noch 640 000 Liter. Im Gegensatz zu den USA unterliegen die deutschen Plasmaspendezentren besonders strengen Auflagen: "Hier muss sich ein Arzt vor Ort jeden Plasmaspender ansehen", sagt Marcell Heim, langjähriger Vorstand der Arbeitsgemeinschaft Plasmapherese, der Interessenvertretung von aktuell 92 Plasmaspendezentren in Deutschland. Im Unterschied zu den USA kümmere sich auch stets eine Pflegekraft um die Apparaturen, sagt Heim, was zusammen genommen die Gewinnung hier wesentlich teurer macht.

Das importierte Plasma wird dann teilweise zusammen mit dem hier gewonnenen Rohstoff von den Pharmafirmen weiterverarbeitet, um daraus zum Beispiel die Immunglobuline für Medikamente zu gewinnen. Ein Teil der Arzneimittel wird wieder in die USA exportiert, der andere kommt in Europa auf den Markt.

Was, wenn Trump plötzlich beschließen würde, den Export von Blutplasma als politisches Druckmittel einzusetzen?

Weil aber die Nachfrage weltweit steigt, wird der Vorrat an Medikamenten knapp. Und die Unternehmen können für ihre begehrten Produkte zunehmend höhere Preise verlangen. Allein im vergangenen Jahr stiegen die Preise in Deutschland um etwa 30 Prozent, für eine Universitätsklinik kommen da schnell Hunderttausende Euro an Zusatzkosten zusammen. Noch dazu, weil Ärzte die Medikamente wie die Antikörper-Infusionen nicht über die üblichen Fallpauschalen der gesetzlichen Krankenkassen abrechnen können. Stattdessen erhalten die Kliniken dafür Zusatzzahlungen, die das Institut für das Entgeltsystem im Krankenhaus festlegt. Das Problem dabei: Diese Beträge werden erst mit einer Zeitverzögerung von ein bis zwei Jahren an neue Preisentwicklungen angepasst. "Wir haben im vergangenen Jahr enorme finanzielle Verluste eingefahren," sagt Hans-Gerd Strobel, Chefapotheker des Universitätsklinikums Schleswig-Holstein.

Eine Kostprobe davon, was Krankenhäusern künftig blühen könnte, bekam ein Verbund von neun Universitätskliniken im Herbst 2018 zu spüren: Die Firma Shire (heute Takeda) teilte ihnen mit, dass sie im Folgejahr deutlich weniger Immunglobuline erhalten würden als bisher. Die Kliniken berichten über einen Verlust von 40 Prozent. "Ich fürchtete schon, dass wir bald ein leeres Lager haben würden", sagt Hans-Peter Lipp, Leiter der Universitätsapotheke Tübingen. Takeda selbst berichtet, dass sich die weltweite Nachfrage nach Immunglobulin-Therapien in den vergangenen Jahren fast verdreifacht hat. "Das Angebot kurzfristig zu erhöhen, ist aktuell eine nicht lösbare Aufgabe", schreibt Takeda in einer Stellungnahme für den NDR und die Süddeutsche Zeitung.

Nicht alle Experten sehen in der aktuellen Situation ein Problem. "Es kommt immer wieder vor, dass bei einzelnen Produkten ein Lieferengpass besteht", sagt Klaus Cichutek, Leiter des Paul-Ehrlich-Instituts (PEI). Doch seien diese auf Schwierigkeiten bei der Herstellung zurückzuführen, einen Mangel an Plasma sieht er nicht. In Deutschland stünden dann sofort vergleichbare Medikamente zur Verfügung. Experten wie Marcell Heim widersprechen dieser Darstellung vehement: "Seit Jahren kommt es in Deutschland regelmäßig zu Engpässen, bei den Immunglobulinen wie auch bei anderen Plasmaprodukten."

Die meisten EU-Länder lehnen Zahlungen für Plasmaspenden als unethisch ab

Immerhin hat das PEI im Juni alle Einrichtungen der Krankenversorgung aufgefordert, ihren Verbrauch und den Verfall von Immunglobulinen zu melden. "Damit soll den Gründen für den stetig steigenden Verbrauch nachgegangen werden", heißt es in einer Stellungnahme des Bundesgesundheitsministeriums, das die Entwicklung gemeinsam mit dem PEI beobachtet.

In Frankreich gab es schon im Frühsommer 2018 einen Lieferengpass, sodass die französische Behörde für Arzneimittelsicherheit ANSM Empfehlungen herausgab, für welche Patienten die Immunglobuline angesichts des Mangels eingesetzt werden durften. Für Menschen mit einem schweren Immundefekt nämlich kann ein solcher Engpass lebensbedrohlich sein. Fehlt die Antikörper-Therapie, sind sie Krankheitserregern fast hilflos ausgesetzt. Weitere Lieferengpässe gab es im gleichen Jahr zum Beispiel in Großbritannien und in Griechenland, in Portugal und Ungarn.

Daher entwickeln Experten derzeit eine europäische Strategie, um künftig unabhängiger zu sein von den wirtschaftlichen Interessen einzelner globaler Firmen. Das beginnt schon beim Blutplasma selbst. In Europa stammt 40 Prozent davon aus den USA, heißt es in einem Dokument, das eine Gruppe von zehn Abgeordneten des EU-Parlaments im Dezember 2018 in Brüssel diskutierte. Auch Paul Strengers hat bereits vor drei Jahren in einem Fachartikel zur Vorsicht gemahnt, in der Zwischenzeit ist die allgemeine Sorge noch gewachsen: Was, wenn US-Präsident Donald Trump plötzlich beschließen würde, den Export von Blutplasma in die EU als politisches Druckmittel einzusetzen? Was, wenn in den USA plötzlich ein neuer Krankheitserreger auftaucht und die USA kein Plasma mehr liefern können?

Darüber haben die Experten der EU und des Europarats bei einem Treffen im Januar in Straßburg diskutiert. Sie waren sich einig, die Zahl der Plasmaspender in der EU erhöhen zu wollen. Wie das gelingen soll, darüber streiten sich die EU-Länder jedoch seit Jahren. "Wir haben in Europa zwei Spendensysteme für Blutplasma", erklärt Frédéric Bigey, stellvertretender Direktor des Etablissement Français du Sang der Region Grand Est, des staatlichen Blutinstituts in Frankreich. In den meisten EU-Ländern erhalten Plasmaspender für ihre Spende kein Geld, nur Ungarn und Österreich, Tschechien und Deutschland bilden hier die Ausnahme. In Deutschland erhalten Plasmaspender eine Aufwandsentschädigung von 10 bis 25 Euro. "Klar ist, dass diese Summe kein Anreiz für eine Plasmaspende sein soll," sagt Franz Weinauer, stellvertretender Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft Plasmapherese. Doch sollten die Spender immerhin die Fahrt zum Plasmazentrum, Parkgebühren und Spendenzeit erstattet bekommen.

Die meisten EU-Länder lehnen aber jegliche Zahlungen für Plasmaspenden ab. Substanzen des menschlichen Körpers sollten nicht käuflich sein, argumentieren Strengers und Kollegen. Sie wollen ein Spendersystem wie in den USA vermeiden, in dem die Zentren Menschen mit Bonuszahlungen von gern mal bis zu 75 US-Dollar für besonders häufige Spenden anlocken. "Das ist ein unethisches Modell, das wir in dieser Form in Deutschland nicht wollen", sagt auch Karl Lauterbach, Gesundheitsexperte der SPD.

Mediziner und Apotheker drängen stattdessen auf mehr Engagement der Politik. In Deutschland sollte mehr Werbung für die Plasmaspende gemacht werden, sagt der Transfusionsmediziner Marcell Heim. Andere Länder sollten darin unterstützt werden, mehr Plasmaspendezentren aufzubauen. Damit Patienten wie Barbara Böhm aus Hannover in Zukunft nicht um ihre Medikamente bangen müssen.

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