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Herz-Kreislauf-Erkrankungen:Wann ist der Blutdruck zu hoch?

In den USA wurden gerade strengere Grenzwerte für den normalen Blutdruck eingeführt. Die Neuregelung birgt Risiken - und übersieht, dass Messungen erstaunlich oft unpräzise sind.

Von Werner Bartens

Grenzwerte zu senken ist eine feine Sache, wenn es sich um Umweltgifte, Lärmbelästigung oder das Gerede anstrengender Kollegen handelt. Werden in medizinischen Leitlinien und Empfehlungen Grenzwerte nach unten verschoben, scheint auch das auf den ersten Blick eine prima Idee zu sein. Auf den zweiten Blick offenbaren sich jedoch etliche Fallstricke und Probleme.

So zeigen australische Gesundheitswissenschaftler im Fachmagazin JAMA Internal Medicine, welche Nachteile die jüngsten Empfehlungen amerikanischer Herzexperten zur Blutdrucksenkung mit sich bringen. Zwei mächtige Fachgesellschaften der Kardiologen - das American College of Cardiology und die American Heart Association - hatten 2017 neue Leitlinien erlassen, wonach Bluthochdruck bereits mit einem Wert von 130/80 Millimeter auf der Quecksilbersäule (mm Hg) beginnt. Zuvor hatte meist ein Grenzwert von 140/90 gegolten, mancherorts von 140/80. Wer zudem erhöhte kardiovaskuläre Risiken aufweist, soll den neuen Leitlinien zufolge bereits ab Werten von 130/80 mm Hg behandelt werden, Patienten ohne Risiko ab 140/90.

Unmittelbar nach der Veröffentlichung hatten etliche Ärzte die neuen Richtlinien kritisiert. So monierte die amerikanische Ärztevereinigung, die Grenzwertsenkung sei "nicht evidenzbasiert und könnte zu minderwertigen Behandlungen führen". Der Fachverband der US-Allgemeinmediziner bemängelte, dass "der potenzielle Schaden zuvor nicht erfasst wurde, wenn Patienten fortan mit dem niedrigen Zielwert behandelt" würden.

Die Messung ist oft falsch und ungenau. Etliche Patienten müssten nicht behandelt werden

Diese Kritik erneuern jetzt Katie Bell, Jenny Doust und Paul Glasziou von den Universitäten Sydney und Gold Coast mit weiteren Argumenten. Demnach würden 80 Prozent der Patienten, die nach den neuen Kriterien als Hypertoniker gelten, nicht von der Diagnose profitieren. Nur elf Prozent hätten einen marginalen Nutzen, für neun Prozent sei es eine Verbesserung, weil Herzkreislaufleiden eventuell therapeutisch hinausgezögert werden könnten.

Schäden seien hingegen in gleich dreifacher Hinsicht zu erwarten: "Erstens führt die Ausweitung der Krankheitsdefinition dazu, dass immer mehr Menschen das Etikett verpasst bekommen, nicht gesund zu sein, auch wenn sie nur ein geringes Risiko aufweisen", sagt Bell. "Als jemand mit Bluthochdruck abgestempelt zu werden, erhöht zudem nachweislich das Risiko für Ängste und Depressionen gegenüber jenen, die auf gleiche Blutdruckwerte kommen, aber nicht das Etikett hypertensiv erhalten." Die neuen Grenzwerte führten dazu, dass künftig 46 statt bisher 32 Prozent aller Erwachsenen Bluthochdruck diagnostiziert bekommen.

Dass zunehmend viele Menschen starke Nebenwirkungen durch die strenge Blutdrucksenkung erleiden würden, ist der zweite Kritikpunkt. Neben Entgleisungen der Elektrolyte im Blut und drohendem Nierenversagen durch die forcierte Therapie drohen wegen zu niedrigen Blutdrucks vor allem Ohnmachtsanfälle und Stürze. Da im Alter häufig Blutdrucksenker verschrieben werden, sind Frakturen des Oberschenkels eine große Gefahr, weil manche Patienten nach einem Sturz dauerhaft bettlägerig bleiben. Um mindestens zwei Prozent höher liegt die Rate solcher Komplikationen, wenn mit entsprechend straffem Regime auf den Zielwert 130/80 mm Hg hin behandelt wird.

Zudem würden Patienten mit der Diagnose Bluthochdruck in Ländern mit fragilem Versicherungsschutz wie den USA schwieriger eine Krankenversicherung bekommen. In anderen Ländern werden sie von strukturierten Behandlungsprogrammen ausgeschlossen, weil sie sonst dem Arzt seine "Erfolgsstatistik" vermiesen.

In derselben Ausgabe von JAMA Internal Medicine zeigen weitere Studien, dass die Senkung der Blutdruck-Grenzwerte aus einem weiteren Grund heikel ist. Ärzte der Universität Cleveland betonen, wie wichtig es ist, die Messung am Arm mehrmals zu wiederholen. So ergab die Analyse von 38 000 Patienten, dass schon bei einer zweiten Messung im Abstand von mehr als einer Minute der "obere" systolische Wert um durchschnittlich 8 mm Hg niedriger lag. In anderen Studien waren es sogar 11 mm Hg Differenz gewesen. "Diese Absenkung ist klinisch von Bedeutung", schreiben die Autoren um Douglas Einstadter. "Das entspricht der Reduktion, die mit einem zusätzlichen Medikament erreicht werden kann."

Grenzwerte weiter senken, immer weiter - irgendwann sind dann alle erfasst

Obwohl Bluthochdruck zu einem der häufigsten Leiden überhaupt gehört, wird erstaunlich lax mit der Messung umgegangen. Robert Baron von der University of California in San Francisco erinnert deshalb daran, dass für die korrekte Messung 19 Details zu beachten sind. Neben wiederholten Messungen ist es wichtig, dass der Patient mindestens fünf Minuten gesessen hat, Füße auf den Boden, Rücken angelehnt und mindestens seit einer halben Stunde mit Kaffee, Nikotin und Sport pausiert hat. Untersucher und Patient reden nicht während der Untersuchung, die Manschette darf nicht über der Kleidung liegen, muss die richtige Größe haben und in Herzhöhe platziert sein. Dass diese Vorgaben in Zeiten der Fließbandmedizin Beachtung finden, darf bezweifelt werden.

Werden - per Federstrich und Neudefinition - allein in den USA aus 72 Millionen Patienten mit Hochdruck plötzlich 103 Millionen, könnten auch andere Motive eine Rolle spielen. "Die neue Richtlinie folgt einem Trend in der Medizin", sagt Paul Glasziou: "Krankheitsbeschreibungen werden erweitert, nicht verengt. Dabei weichen beim Blutdruck die Messwerte in verschiedenen Kliniken um bis zu 10 mm Hg voneinander ab." Sport und gesunder Lebensstil sollten zudem mehr beachtet werden. Michael Kochen, lange Präsident der deutschen Allgemeinmediziner, hatte bei Erlass der neuen Leitlinien prophezeit, dass womöglich bald 120/80 mm Hg das Ziel sei, "dann sind irgendwann alle erfasst".

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Quelle:
SZ vom 17.04.2018
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