Süddeutsche Zeitung

Biontech-Impfung für Kinder:Impfen oder warten?

Schon in wenigen Tagen könnte in den USA eine Corona-Impfkampagne für Kinder unter zwölf Jahren beginnen. Was bedeutet das für Europa? Die wichtigsten Fragen und Antworten.

Von Felix Hütten und Sören Müller-Hansen

Der Corona-Impfstoff von Biontech/Pfizer hat in den USA auch für den Einsatz bei Kindern zwischen fünf und elf Jahren eine Notfallzulassung bekommen. Nachdem ein Beratergremium der FDA sich zuvor dafür ausgesprochen hatte, gewährte die US-Arzneimittelbehörde die Notfallzulassung. Damit kann die Impfkampagne für die etwa 28 Millionen betroffenen Kinder in den USA nun starten. Innerhalb der kommenden Tage sollen 15 Millionen Dosen Impfstoff an Kinderärzte, Kliniken und Apotheken ausgeliefert werden. Auch in Europa haben das deutsche Unternehmen Biontech und sein US-Partner Pfizer eine Zulassung ihres Corona-Impfstoffs für Kinder dieser Altersgruppe beantragt.

Was zeigen die derzeit vorliegenden Daten zur Kinderimpfung?

Die Impfung hat bei den untersuchten Probanden einen Monat nach der zweiten Dosis eine starke Immunantwort hervorgerufen, insbesondere in Form von Antikörpern gegen die derzeit noch dominierende Delta-Variante von Sars-CoV-2. Außerdem ist die Impfung nach aktueller Datenlage gut verträglich, schwerwiegende Komplikationen traten nicht auf. Verglichen mit Erwachsenen und Jugendlichen wurde den Fünf- bis Elfjährigen mit zehn Mikrogramm eine deutlich geringere Impfdosis verabreicht. Insgesamt nahmen an der Studie 1518 Kinder teil, die das Vakzin erhielten; 750 Kinder bekamen ein Placebo-Mittel. Unter den geimpften Kindern infizierten sich drei mit dem Virus, in der Kontrollgruppe 16. Die Zahl der beobachteten Impfreaktionen wie etwa eine Rötung an der Einstichstelle war in beiden Gruppen etwa gleich.

Welche Auswirkungen haben diese Daten für die Impfkampagne in Deutschland?

Auch in Europa haben Biontech und sein US-Partner Pfizer eine Zulassung ihres Corona-Impfstoffs für Kinder zwischen fünf und elf Jahren beantragt. Eine Entscheidung der EU-Arzneimittelbehörde EMA steht noch aus, diese soll nach eigenen Anganbe aber noch möglichst vor Weihnachten getroffen werden. Mit Blick auf die vergangenen Zulassungsverfahren der Corona-Impfstoffe ist zu erwarten, dass auch die EMA irgendwann grünes Licht geben wird. Mit einer Zulassung des Impfstoffs für die Altersgruppe sind Ärztinnen und Ärzte berechtigt, das Vakzin zu verimpfen, auch ohne Empfehlung der Ständigen Impfkommission (Stiko). Ob sich diese für eine Kinderimpfung aussprechen wird, ist offen. Derzeit impfen wenige Ärztinnen und Ärzte in Deutschland bereits Kinder unter zwölf Jahren im sogenannten Off-label-Verfahren gegen Sars-CoV-2. Die Anwendung nicht für Kinder zugelassener Arzneimittel ist rechtlich in manchen Fällen möglich, allerdings in Fachkreisen umstritten.

Ist es sinnvoll, nach Zulassung des mRNA-Impfstoffs Kinder unter zwölf Jahren gegen Sars-CoV-2 zu impfen?

Diese Frage lässt sich pauschal nicht beantworten. Die aktuellen Daten zeigen eine hohe Schutzwirkung und liefern keine Hinweise auf schwere Nebenwirkungen wie etwa die bei Erwachsenen in sehr seltenen Fällen auftretenden Herzmuskelentzündungen. Allerdings ist die Zahl der in der Studie untersuchten Kinder gering, sodass sehr seltene Nebenwirkungen womöglich erst im Zuge einer breitangelegten Impfkampagne auffallen werden.

Für eine Entscheidung für oder gegen eine Kinderimpfung müssen derzeit verschiedene Aspekte abgewogen werden. Noch immer etwa ist wissenschaftlich nicht zweifelsfrei belegt, welche langfristigen Folgen Kinder nach einer Covid-Infektion davontragen und wie viele Kinder von den Beschwerden tatsächlich betroffen sind.

Die Sorge vor Langzeitschäden nach einer Impfung wiederum ist unbegründet, da schwere Nebenwirkungen, wenn überhaupt, zeitnah als Reaktion auf einen Stimulus des Immunsystems passieren müssten. Anders bei der Virusinfektion: Von anderen Viruserkrankungen weiß man, dass Langzeitschäden auch Jahre nach einer Infektion auftreten können, etwa bei Masern. Weil die Datenlage zu Langzeitfolgen einer Infektion derzeit noch unklar ist, warnen viele Expertinnen und Experten, Kinderinfektionen nicht auf die leichte Schulter zu nehmen, bis es mehr Gewissheit gibt.

Dies gilt insbesondere bei einer hohen Zahl an täglich nachgewiesenen Neuinfektionen, wie sie aktuell auch in Deutschland zu sehen ist. In dieser epidemiologischen Lage sind Kinder besonders gefährdet sich zu infizieren - ein gutes Argument für die Impfung. Sollte das Virus eines Tages unter Kontrolle sein, etwa, weil ausreichend Erwachsene infiziert waren oder geimpft sind, würde die Gefahr für Kinder wieder sinken - und damit auch die Dringlichkeit einer Impfung für sie.

Wie stark betroffen sind Kinder von einer Corona-Infektion in Deutschland?

Bislang registrierte das Robert-Koch-Institut (RKI) etwa 420 000 infizierte Kinder im Alter zwischen fünf und 14 Jahren, das entspricht knapp sechs Prozent aller Kinder in dieser Altersgruppe. Sehr wahrscheinlich aber liegt die Dunkelziffer deutlich höher, da Kinder häufig keine oder allgemeine Erkältungssymptome nach einer Infektion entwickeln - und nicht getestet wurden. 2744 mit Covid-19 infizierte Kinder mussten bis Mitte Oktober in einem Krankenhaus behandelt werden.

In der zurückliegenden Woche registrierte das RKI etwa 16 000 Kinder mit einer Sars-CoV-2-Infektion, das sind 27 Prozent mehr als in der Vorwoche. Wie sich dieser Trend fortsetzen wird, ist schwer zu bestimmen. Ein mögliches Szenario: Die Zahl der wöchentlichen Neuinfektionen bleibt etwa gleich. Bis Anfang März 2022 würden sich dann etwa 300 000 der weitgehend ungeimpften Kinder infiziert haben, etwa 2000 von ihnen müssten wahrscheinlich bis dahin im Krankenhaus behandelt werden.

Würde die Zahl der Neuinfektionen hingegen weiter exponentiell wachsen, müsste man mit mehr als vier Millionen infizierten Kindern bis Anfang März rechnen. Bis zu 30 000 Kinder könnten dann im Krankenhaus behandelt werden müssen. Diese Schätzungen sind sehr wahrscheinlich Höchstwerte, da viele Infektionen wegen ihres milden Verlaufs gar nicht erkannt werden. Durch dieses Dunkelfeld lässt sich die tatsächliche Krankheitslast unter infizierten Kindern schwer abschätzen. Allerdings sind bereits jetzt viele Kinderkliniken überfüllt, da auch andere Krankheitserreger wie das RS-Virus in der kalten Jahreszeit grassieren.

Was kann man tun, um Kinder auch ohne Impfstoff vor einer Corona-Infektion zu schützen?

Aus Sicht des Infektionsschutzes gibt es, auch wenn manche das anders sehen wollen, keinen Zweifel: Jede Barriere zwischen Virus und Schleimhaut eines Menschen schützt vor einer Ansteckung, auch Kinder. So helfen die allgemein bekannten Maßnahmen wie Masken in Schulen, geimpftes Personal in Kitas und Kindergärten sowie Abstandsregeln und gut durchlüftete Räume, um das Infektionsrisiko zu mindern. Auch Eltern und Großeltern, die sich um die Gesundheit ihrer Kinder sorgen, sollten sich schnellstmöglich impfen lassen. Die Wahrscheinlichkeit, sich mit dem Virus zu infizieren und es anschließend an Kinder weiterzugeben, nimmt bei den derzeit hohen und weiter steigenden Inzidenzen weiter zu. Da Sars-CoV-2 sehr wahrscheinlich nicht mehr verschwindet, wird früher oder später so gut wie jeder Mensch weltweit mit dem Erreger in Kontakt kommen.

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