Süddeutsche Zeitung

Medizin am Lebensende:"So etwas dürfen wir den Menschen nicht antun"

Will ein Patient weiterleben, wenn er nicht mehr sprechen, essen oder atmen kann? Den Willen in so einem Fall zu ermitteln, ist selbst mit einer Verfügung schwierig.

Interview von Michaela Schwinn

Die moderne Intensivmedizin macht es möglich, Herz, Niere oder Lunge zu ersetzen, sie hilft Schwerverletzten und alten Menschen, die früher sehr wahrscheinlich nicht überlebt hätten. Aber sie hat auch neue Probleme geschaffen. Der Bundesgerichtshof musste über einen besonders schwierigen Fall verhandeln: Ein Mann verlangt Schadenersatz, weil er der Meinung ist, dass sein dementer Vater unnötig lange am Leben erhalten wurde. Damit sei das Leiden seines Vaters sinnlos verlängert worden.

Will ein Patient überhaupt weiterleben, wenn er nicht mehr sprechen, selbständig essen oder atmen kann? Mit dieser Frage werden Angehörige und Intensivmediziner wie Uwe Janssens immer häufiger konfrontiert. Janssens, 59, ist Chefarzt der Klinik für Innere Medizin und Internistische Intensivmedizin am St.-Antonius-Hospital in Eschweiler. Seit Januar ist er Präsident der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin.

SZ: Herr Janssens, haben Sie häufig Patienten auf Ihrer Station, die ihren Willen nicht mehr äußern können?

Uwe Janssens: Ja, das kommt sehr häufig vor. Das ist tatsächlich ein großes Problem.

Haben diese Patienten ihren Willen vorher irgendwo festgehalten?

Die Mehrheit der Deutschen hat keine Patientenverfügung, also eine schriftliche Willenserklärung. Aber selbst wenn der Patient eine hat, wird sie manchmal zu spät vorgelegt oder fehlt in den Akten.

Was passiert dann mit solchen Patienten?

Wenn es keine schriftliche Erklärung gibt, dann müssen wir dessen juristische Stellvertreter befragen - also entweder einen Angehörigen mit Vorsorgevollmacht oder einen gerichtlich bestellten Betreuer.

Und diese müssen dann entscheiden, wie es weitergeht, ob der Patient künstlich beatmet oder ernährt werden soll?

Genau das ist die falsche Formulierung. Niemals darf man den Angehörigen das Gefühl geben, dass sie jetzt über Leben oder Tod entscheiden müssen. Sie müssen sich die Situation vorstellen: Ein Ehemann hatte einen Herzkreislaufstillstand, er wird wiederbelebt und kommt ins Krankenhaus. Er liegt da, hängt an Schläuchen und ist nicht ansprechbar. Da steht dann die Ehefrau mit den beiden Kindern vor der Tür. Sie kommen in eine Welt, die schlimmer nicht sein könnte.

Wie geht man in solchen Fällen am besten vor?

Da müssen wir behutsam vorgehen. Angehörige tun sich mit der Stellvertreterrolle sehr schwer. Oft äußern sie eher ihre eigenen Wünsche als die des Angehörigen, weil sie extreme Verlustängste haben und Schuldgefühle: Ich bin schuld, wenn mein Vater stirbt.

Wie findet man dann heraus, was der Patient wollte?

Wir müssen uns Zeit nehmen und uns mit den Angehörigen hinsetzen. Zunächst sagen wir, was medizinisch möglich und sinnvoll wäre. Dann geht es darum, was der Patient gewollt hätte. Was ist er für ein Mensch? Was hat er vom Leben erwartet? Hat er sich in der letzten Zeit immer mehr zurückgezogen? Wurde etwas geäußert wie: So würde ich nie leben wollen, oder wäre ich doch schon tot. Da kommen dann plötzlich ganz erstaunliche Dinge. Manchmal kommen diese Gespräche aber auch zu spät.

Inwiefern?

Ich hatte kürzlich einen sehr bedrückenden Fall. Eine Frau, etwa 60 Jahre alt, mit Parkinson und Demenz, bekam Atemschwäche, also intubierte man sie und brachte sie in ein Beatmungsheim. Dann kam sie von dort zu uns auf die Intensivstation, sie war nicht ansprechbar, und wir wussten erst mal nicht, wie es weitergehen soll. Der gerichtlich bestellte Betreuer war nicht erreichbar. Irgendwann konnten wir die Tochter kontaktieren. Sie erzählte uns, dass ihre Mutter bis vor Kurzem noch völlig unabhängig lebte und immer betont hatte: An Maschinen hängen? Auf keinen Fall. Nun ist das aber trotzdem passiert. So etwas dürfen wir den Menschen nicht antun.

Kommt so etwas öfter vor?

Ja, leider. Ich vermute, dass auch das deutsche Abrechnungssystem über Fallpauschalen immer wieder zu besonders erlösträchtigen Therapien verleitet und es zu einer Übertherapie kommt. Häufig spielen aber auch Unsicherheiten und Ängste auf Seiten der Ärzte eine Rolle.

Würde es helfen, wenn jeder eine Patientenverfügung hätte?

Jein. Sie sind ein Anhaltspunkt, aber sie haben leider auch Schwachstellen. Solche Bögen zum Ankreuzen sind oft unpräzise und beschreiben nicht die konkrete Situation, in der sich ein Patient gerade befindet. Meist sind sie auch gar nicht mehr aktuell, nicht selten sind sie fünf oder zehn Jahre alt. Die Einstellung zum Leben kann sich im Lauf der Zeit komplett geändert haben.

Aber was wäre die Alternative?

Es erscheint mir sehr wichtig, dass gerade bei chronisch schwerkranken Menschen frühzeitig der Wille eruiert und auch dokumentiert wird. Also schon auf der Normalstation oder im Pflegeheim. Bevor die Patienten also auf Intensivstation kommen.

Wie würde das in der Praxis aussehen?

In Altenheimen sollte es geschultes Personal geben, das frühzeitig alle möglichen Situationen mit den Bewohnern bespricht. Das sollte regelmäßig wiederholt und der geäußerte Wille allen Beteiligten mitgeteilt werden. In Australien ist dieses Vorgehen schon gang und gäbe. In Deutschland gibt es bisher nur Modellprojekte, wie die Initiative "Behandlung im Voraus planen", die in manchen Heimen schon umgesetzt wird. Wenn dort eine Bewohnerin einen Schlaganfall hat, dann würde nicht gleich der Sanitäter gerufen, sie würde nicht wiederbelebt - weil dokumentiert wurde, dass sie das nicht will. Und dann darf die Frau in Frieden ihr Lebensende erleben.

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Quelle:
SZ vom 12.03.2019
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