Süddeutsche Zeitung

BGH-Entscheid:Wenn das Therapieziel Tod heißt

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Von Wolfgang Janisch

Fünf Jahre lang wurde der alte Herr S. über eine Magensonde ernährt, und am Ende war vom Leben fast nichts mehr übrig. Er litt an fortgeschrittener Demenz, war bewegungsunfähig, konnte nicht mehr kommunizieren. In den letzten beiden Jahren plagten ihn Entzündungen der Lunge und der Gallenblase, bis der 82-Jährige, es war Oktober 2011, den Tag erreichte, an dem er sterben durfte.

An diesem Dienstag verhandelt der Bundesgerichtshof (BGH) über das lange Sterben des Herrn S., und es könnte ein Fall für die Rechtsgeschichte werden. Zwar befassen sich die obersten Gerichtshöfe schon seit Jahrzehnten mit den komplizierten Fragen am Ende des Lebens, und sie tun es weiter. Mitte April verhandelt das Bundesverfassungsgericht über das Verbot der geschäftsmäßigen Suizidbeihilfe. Oder das Bundesverwaltungsgericht: Vor zwei Jahren verpflichtete es den Staat, schwerst kranken Menschen in Extremfällen gleichsam den Schierlingsbecher zu reichen - ein Urteil, dessen Umsetzung die Bundesregierung bisher verweigert.

Auch die Patientenverfügung ist beim BGH immer wieder Thema, zuletzt im November. Jedoch geht es in all diesen Fällen um den Wunsch des Patienten, von großem Leid am Lebensende erlöst zu werden. Muss man diesen Willen respektieren, darf man ihn unterstützen? Davon handeln diese Prozesse. Doch weil Herr S. keinen Willen geäußert hatte, bevor er in das Reich der Dunkelheit abtauchte, ist es dieses Mal die moderne Medizin, die eine Existenzfrage beantworten muss. Wenn der Körper mit Flüssigkeitszufuhr jahrelang am Leben erhalten werden kann - wann muss der Arzt Betreuern und Angehörigen das Sterbenlassen empfehlen? Wann heißt das Therapieziel nicht mehr Leben, sondern Tod?

Der Arzt soll zahlen, weil er sich fürs Lebenlassen entschied

Das Oberlandesgericht München hat im Dezember 2017 ein spektakuläres Urteil gefällt, das - sollte der BGH es bestätigen - Ärzte gewaltig unter Druck setzen könnte. Der Sohn des Herrn S. hat danach Anspruch auf 40 000 Euro Schmerzensgeld, das Erbe des leidenden Vaters. Und zwar deshalb, weil der Hausarzt dem Betreuer des Mannes nicht dazu geraten habe, die künstliche Ernährung abzubrechen - und so das Leiden ohne medizinische Indikation verlängert habe. Der Arzt soll zahlen, weil er sich fürs Lebenlassen und nicht fürs Sterbenlassen entschieden hat.

Vertreten wird der Sohn bei seiner Klage durch Wolfgang Putz, der schon viele aufsehenerregende Verfahren zum Thema Sterbehilfe geführt hat. Aus Sicht des Anwalts ist die Forderung letztlich ein Hebel, um jene Ärzte zum Einlenken zu bringen, die selbst dann auf die Magensonde setzen, wenn die Behandlung medizinisch sinnlos geworden ist. Ärzte haben nicht nur Verantwortung für das Leben, sondern auch für ein würdiges Sterben, soll das heißen.

Nun ist das keineswegs neu. Der BGH hat 2003 entschieden, dass das Wohl des Betroffenen "einerseits eine ärztlich für sinnvoll erachtete lebenserhaltende Behandlung gebietet, andererseits aber nicht jede medizinisch-technisch mögliche Maßnahme verlangt". Auch die Leitlinien der Bundesärztekammer enthalten längst Vorgaben, das OLG München hat sie ausführlich zitiert: Bei fortgeschrittener Demenz sei die Sondenernährung eine ärztliche Einzelfallentscheidung, bei finaler Demenz werde sie nicht empfohlen. Dass sich Ärzte gleichwohl damit schwertun, hat möglicherweise mit dem Siegeszug der Patientenverfügung zu tun. Die Krankenhäuser hätten gelernt, sich nach dem Willen des Patienten zu richten - umso schwerer falle ihnen aber häufig die Entscheidung, wenn ein solcher Wille nicht vorliege, meint Putz. "Ethisch ist das eigentlich geklärt, es muss nur in die Praxis umgesetzt werden."

Ungleich komplizierter ist die zweite Frage, die der Fall aufwirft: Kann der Mediziner finanziell in Haftung genommen werden, nur weil er sich für das Weiterleben des Patienten entschieden hat? Kann das Leben, und sei es noch so schmerzvoll, überhaupt ein "Schaden" sein, der juristisch eingeklagt werden kann? Oder ist es nicht genau das, was Angehörige empfinden, wenn sie das Wort "Erlösung" in die Todesanzeige schreiben? Etwas Besseres als den Tod findest du überall, sagten sich die Bremer Stadtmusikanten. Aber kann nicht der Tod manchmal doch das Beste sein, was noch zu finden ist?

Juristen führen diese Diskussion unter dem Stichwort "wrongful life" bisher im Zusammenhang mit unterbliebenen Abtreibungen. 1983 hat der BGH über die Ansprüche eines schwerst geschädigten Kindes entschieden. Die Mutter war während der Schwangerschaft an Röteln erkrankt, der Arzt hatte sie nicht vor den Schäden gewarnt, die dem Baby drohten. War dieses junge Leben nun ein "Schaden", für den das Kind den Arzt haftbar machen konnte? Kann ein Mensch finanzielle Entschädigung dafür fordern, dass er lebt und nicht tot ist? Der BGH lehnte das damals ab. Das Recht sei nicht dazu da, eine Geburt zu verhindern, weil man dieses Leben als "unwert" erachte, fand der BGH damals.

Schwer zu sagen, ob der BGH dieses Prinzip nun auch für schwerst kranke Patienten am Ende des Lebens gelten lässt; der Fall führt an die Grenzen des Rechts. Kompliziert ist das nicht nur wegen der ethisch-philosophischen Dimension. Der BGH wird auch bedenken, welches Signal ein solcher Anspruch auf Entschädigung setzen würde - zu dem übrigens weitere Schadenersatzforderungen hinzukommen könnten, vor allem von den Kranken- und Pflegekassen. Folgt man nämlich der Argumentation des OLG, dann hätten sie jahrelang für Heim und Krankenhaus bezahlt, obwohl die Behandlung medizinisch nicht angezeigt und damit eigentlich rechtswidrig war. Da kommen schnell Hunderttausende Euro zusammen.

Wenn aber ein Arzt sechsstellige Haftungssummen im Kopf hat, während er darüber nachdenkt, ob er die Magensonde abklemmen soll, gerät er damit womöglich unter den psychischen Druck, sich lieber gegen das Leben zu entscheiden? In einem Standardwerk für Medizinrecht plädieren die Fachleute für Vorsicht. Schadenersatz wegen nicht gerechtfertigter Lebensverlängerung dürfe nur in Betracht kommen, wenn das ärztliche Handeln eindeutig unvertretbar sei - also bei Vorsatz oder grober Fahrlässigkeit. Der BGH wird sein Urteil vermutlich in einigen Wochen verkünden.

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Quelle:
SZ vom 12.03.2019
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