Süddeutsche Zeitung

Pflege:Pflegebetrug: Auch Ärzte und Apotheker unter Verdacht

Zunächst hieß es, vor allem russische Banden rechneten Pflegeleistungen ab, ohne dass diese erbracht wurden. Nun zeigt sich: Das Problem ist wohl umfassender.

Von Kim Björn Becker

Der Umfang des mutmaßlichen Abrechnungsbetrugs in der Pflege weitet sich offenbar aus. Nun werden die Forderungen immer lauter, die Geschehnisse umfassend aufzuklären. Die Vorgänge müssten "unabhängig von Institutionen und Personen" ans Licht kommen, sagte der Pflegebeauftragte der Bundesregierung, Karl-Josef Laumann (CDU), der Süddeutschen Zeitung. Dies sei Aufgabe der Justiz. Zugleich müssten die Kontrollrechte ausgeweitet werden, fordert Laumann. Andreas Westerfellhaus, Präsident des Deutschen Pflegerats, sagte der SZ, man müsse "in die Tiefe gehen, schonungslos aufdecken und konsequent bestrafen". Es sei wichtig, "ganz gezielt dort anzusetzen, wo Missbrauch vorliegt". Die Branche dürfe nicht "pauschal an den Pranger und unter Generalverdacht" gestellt werden.

Zuvor hatte die Frankfurter Allgemeine Zeitung aus einem vertraulichen Dokument des Bundeskriminalamts (BKA) zitiert, das Ende April im Rahmen eines von Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) einberufenen Krisentreffens vorgelegt worden sei. Aus dem Papier der Ermittler gehe hervor, dass offenbar nicht nur vor allem russische Pflegedienste an dem vermuteten Abrechnungsbetrug mitgewirkt haben sollen, wie es bislang hieß. Beteiligte seien vielmehr "in unterschiedlicher Art und Weise Pflegekräfte, Leistungsempfänger, Angehörige, Ärzte, Apotheken, Sanitätshäuser, etc." Sollten sich die Erkenntnisse bestätigen, wären die Probleme im Pflegesystem vermutlich noch weitaus größer, als sie bislang zu sein schienen.

Darüber hinaus liste das BKA-Dokument einige verbreitete Betrugsmuster auf, hieß es. Bereits seit Beginn der Enthüllungen vor einigen Wochen ist das Verfahren bekannt, wonach einzelne Pflegedienste gegenüber den Kassen Leistungen abgerechnet haben sollen, die sie nicht erbracht haben.

Darüber hinaus stehen nun offenbar auch Ärzte im Verdacht, ausgewählten Pflegediensten gegen Honorar Patienten zugeführt und den Betroffen dafür sogar eigens Atteste ausgestellt zu haben. Ferner sollen ältere Menschen gezielt angeworben worden sein, um für Geld Pflegebedürftigkeit vorzutäuschen. Bisweilen seien die in Rede stehenden Personen "nur zu den jeweiligen Begutachtungsterminen" aus dem Ausland eingereist und hätten das Land danach wieder verlassen. Ferner soll anstatt der geforderten Fachkräfte unqualifiziertes Pflegepersonal eingesetzt worden sein, das teils über gefälschte Zeugnisse verfügt haben soll. Das BKA kommentierte den Bericht bislang nicht öffentlich.

Darüber hinaus stehen auch die Betreiber von stationären Pflegeheimen in der Kritik. Die Staatsanwaltschaften in Kiel und Lübeck führen derzeit Verfahren gegen die Verantwortlichen von 237 Einrichtungen in Norddeutschland. Sie sollen ihre Pfleger in Teilen unzulässigerweise als Selbständige geführt und auf diese Weise den Arbeitgeberanteil zur gesetzlichen Sozialversicherung eingespart haben. Der dadurch entstandene Schaden soll mehr als sechs Millionen Euro betragen. Vor wenigen Tagen haben etwa 600 Beamte mehr als 110 Einrichtungen durchsucht, die Razzia richtete sich vor allem gegen Heime und Kliniken in Schleswig-Holstein. Dort sollen die mutmaßlichen Betrugsfälle im Jahr 2010 begonnen haben.

Die Sozialministerin des Landes, Kristin Alheit (SPD), nannte die Vorgänge einen "richtigen Skandal". Arbeitnehmer seien ausgebeutet und Arbeitsverhältnisse vorgetäuscht worden. "Wir müssen Mechanismen entwickeln, dass das nicht wieder vorkommen kann", sagte Alheit.

Ermittler des BKA sollen das deutsche Pflegesystem insgesamt in dem internen Papier als "generell anfällig für Betrugsstraftaten" gerügt haben. Gründe dafür seien "der einfache Zugang zum Pflegemarkt an sich, die finanzielle Ausstattung des Pflegemarktes sowie Mängel in der Kontrolle und Sanktionierung".

Der Chef der Deutschen Stiftung Patientenschutz, Eugen Brysch, sprach im Hinblick auf das Pflegesystem bereits zuvor von einem "komplizierten Konstrukt, das kaum jemand versteht". Die organisierte Kriminalität nutze diesen "Dschungel" für ihre Machenschaften. Es sei die Aufgabe von Bund und Ländern, "den Sumpf trocken zu legen". Eine elektronische Abrechnung von Leistungen könne eine Lösung sein, so Brysch. Bundesgesundheitsminister Gröhe (CDU) kündigte bereits an, dass erweiterte Kontrollbefugnisse in der Pflege geprüft würden. Bereits zum Jahresbeginn hat der Gesetzgeber unangemeldete Kontrollen erleichtert. Der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach plädierte dafür, eine Schwerpunkt-Staatsanwaltschaft einzurichten und Ermittler auf den organisierten Pflegebetrug anzusetzen. "Diese zum Teil mafiösen Strukturen bekommen wir mit den jetzigen Gesetzen nicht in Griff", sagte Lauterbach.

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SZ vom 06.05.2016
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