Süddeutsche Zeitung

Behandlung bei Schlaganfall:Vorstoß ins Gehirn

Einige Ärzte schwärmen schon von einer "neuen Ära" der Schlaganfall-Therapie. Katheter, die verstopfte Gefäße im Hirn wieder freiräumen sollen, zeigen gute Ergebnisse. Doch obwohl die Stents schon eingesetzt werden, sind noch Fragen ungeklärt.

Von Christian Guht

Da waren endlich die Daten, und die Zuhörer zeigten sich begeistert. Der Neurologe Diederik Dippel von der Erasmus Universität Rotterdam hatte auf dem World Stroke Congress im Oktober in Istanbul Studienergebnisse präsentiert, auf die viele Experten gewartet hatten. Diese Woche erscheinen sie im New England Journal of Medicine. Sie zeigen, dass Schlaganfallpatienten bessere Gesundungschancen haben, wenn die akute Durchblutungsstörung in ihrem Gehirn mit einem Katheter behoben wird, statt sie nur medikamentös zu behandeln.

Bei der Methode schieben Ärzte ein Drahtgestell bis in das betroffene Hirngefäß und entfernen das Gerinnsel. Abzugrenzen ist der Eingriff vom Einsatz solcher "Stents" zur Rückfallprophylaxe von Schlaganfällen. Dabei werden die Gefäßstützen in die Kopfarterien geschoben, um weiteren Verschlüssen vorzubeugen,was sich in der Vergangenheit als riskant erwiesen hat.

Diskussionen gab es aber auch um den Notfalleingriff. Denn obwohl die Kathetertechnik - auch endovaskuläre Therapie genannt - seit zehn Jahren von Neuroradiologen praktiziert und propagiert wird, war bislang nicht belegt, dass sie auch nutzt. "Dies ist die erste Studie, die einen Vorteil für Patienten zeigt", sagt Dippel. Befürworter der Methode schwärmten daher in Istanbul von einer "neuen Ära". Dass die wissenschaftliche Debatte beendet sei, glaubt Gerhard Hamann, Vorsitzender der Deutschen Schlaganfallgesellschaft, nicht: "Es ist die erste positive Arbeit. Wir brauchen mehr Detailkenntnisse darüber, welche Patienten von dem Eingriff profitieren und wie lange nach dem Schlag dieser hilft."

Denn die Methode ist alles andere als trivial und nicht ohne Risiken. Bei einem Schlaganfall verstopft ein Blutgerinnsel eine Hirnarterie, wodurch es zur Minderdurchblutung und schließlich zum Untergang von Hirngewebe kommt. Um dies zu verhindern, bugsieren Spezialisten bei dem Eingriff einen dünnen Katheter durch das Gefäßsystem hinauf in die verschlossene Hirnschlagader, fangen den fatalen Blutpfropf ein und saugen ihn ab.

Gelingt dies rechtzeitig und fließt wieder Blut durchs betroffene Hirnareal, kann es sich erholen. Es gebe "Lazarus-Fälle", berichtet Hamann - die vollständige, beinah handstreichartige Heilung einer schweren und üblicherweise bleibenden Lähmung. "Solche Therapieverläufe sind natürlich sehr erfreulich", sagt der Leiter der Neurologischen Klinik am Bezirkskrankenhaus Günzburg. "Sie verleiten allerdings dazu, eine Therapie zu überschätzen und ihre Risiken auszublenden." Solche bestünden in Hirnblutungen oder weiteren Infarkten, wenn der gelöste Thrombus dem Katheter entwischt und in eine andere Hirnarterie schwimmt. Diese Gefahr zeigte sich auch in der neuen Arbeit, wenngleich die Intervention besser abschnitt als die herkömmliche Therapie.

Die besteht darin, Blutgerinnsel medikamentös aufzulösen. Eine solche Lyse verbietet sich jedoch nach viereinhalb Stunden. Dann lässt ihr Nutzen nach und wiegt die Gefahr einer Hirnblutung nicht mehr auf, die unter dem Medikament auftreten kann. Die Lyse war einige Zeit auch das Mittel der Wahl beim Herzinfarkt, bis der Ballonkatheter sich als geeigneter erwies, verstopfte Kranzgefäße wiederzueröffnen. "Ich denke, wir werden eine ähnliche Entwicklung beim Schlaganfall erleben", sagt Sascha Prothmann, Neuroradiologe vom Klinikum rechts der Isar in München.

Das erschien bisher eher ungewiss. Letztes Jahr zeigten drei Arbeiten im New England Journal of Medicine keine Vorteile des Kathetereingriffs gegenüber der Lyse. So hatten sich beispielsweise in einer Untersuchung etwa 40 Prozent der Patienten relativ gut vom Schlag erholt, unabhängig vom eingesetzten Behandlungsverfahren. Tödliche Verläufe gab es mit je rund 20 Prozent ebenfalls ähnlich oft.

"Diese Daten bildeten veraltete Arbeitsweisen ab und sagen wenig über die moderne Praxis aus", wendet Claus Zimmer ein, Leiter der Neuroradiologie am Klinikum rechts der Isar. Tatsächlich kamen bei den Studien überwiegend ältere Kathetersysteme zum Einsatz, die der neuen Generation unterlegen sind. "Mit den neuen Stent-Retrievern kriegen wir das verschlossene Gefäß in fast 80 Prozent der Fälle frei," sagt Prothmann. "Das schafft man mit der Lyse nicht." Vor allem bei langen Verschlüssen in halsnahen Gefäßen ist eine "Rekanalisierung" mit Medikamenten seltener zu erwarten. Im Notfall kommt der Katheter auch bei schweren Hirnstamminfarkten zum Einsatz, da diese oft fatal enden.

Die Münchner Experten wenden das Verfahren aber nicht erst als letztes Mittel an. "Wir katheterisieren jeden Schlaganfallpatienten, bei dem wir den Gefäßverschluss lokalisieren können und bei dem das betroffene Hirngewebe noch nicht untergegangen ist", sagt Prothmann. Eine Lyse erhalten die Patienten zumeist außerdem. "Patienten, die beide Therapien bekommen, profitieren davon, vermutlich weil das Medikament kleine Gerinnsel auflöst, die der Katheter mobilisiert, aber nicht mitnimmt." Manche Kliniken würden hingegen erst zum Katheter greifen, wenn die Lyse versagt. "Dabei vergeht bloß Zeit," sagt Claus Zimmer. Die Frage sei nicht, ob man Lyse oder Katheter machen soll, sondern wem die Doppelbehandlung nutze.

Entscheidend ist der Faktor Zeit. Doch wann ist der kritische Moment überschritten?

Die Doppeltherapie wandten auch die holländischen Ärzte in ihrer Untersuchung an: 89 Prozent der 500 teilnehmenden Patienten erhielten eine Lyse. Knapp 200 Probanden wurden zusätzlich mit einem Katheter versorgt. Einige erhielten auch Lysemittel über die Gefäßsonde. Der Kathetereingriff erwies sich als vorteilhaft; Infarktgröße und bleibende Schäden fielen geringer aus. 33 Prozent der katheterisierten Kandidaten überstanden den Schlag mit geringen Folgeschäden im Vergleich zu nur 19 Prozent der konventionell behandelten Patienten. Etwas mehr als 20 Prozent überlebten das Ereignis nicht - allerdings galt das für beide Gruppen.

Dies zeigt, dass über den Therapieerfolg wohl vor allem der Faktor Zeit entscheidet. Anders als der Herzinfarkt tut der Schlaganfall nicht weh. Viele Betroffene erreichen erst nach Stunden die Klinik. Ist bereits Hirngewebe abgestorben, nützt es nicht mehr viel, die Gefäßversorgung wieder freizulegen. Die niederländische Studie wies immerhin bis zu sechs Stunden nach dem Schlag einen Effekt des Kathetereingriffs nach. Unklar bleibt, wann der kritische Zeitpunkt überschritten ist. Man richtet sich in der Praxis danach, ob das betroffene Infarktgebiet noch etwas durchblutet und so das Hirnareal gewisse Zeit versorgt wird. Nur lässt sich dieser Umstand im Vorfeld nicht sicher abklären - es sei denn mittels Angiografie, für die der Katheter ohnehin in den Kopf muss.

"Für die Lyse ist hingegen gut belegt, wann sie Kranken nutzt," sagt Hamann. Auf dem Jahreskongress der Deutschen Gesellschaft für Neurologie im September forderte der Neurologe bessere Studien: "Wir brauchen mehr Daten, um Nutzen und Risiko der Methode besser abschätzen zu können." Das sehen nicht alle Experten so. Manche Ärzte halten vergleichende Studien für unethisch, weil der Kathetereingriff so plausibel sei und der Kontrollgruppe das offensichtlich bessere Verfahren nicht vorenthalten werden dürfe.

Da die Hürden eines Qualitätsnachweises für Medizinprodukte ohnehin deutlich niedriger sind als für Medikamente, erwiesen sich solche Analogschlüsse in der Vergangenheit oft als nachteilig für Patienten. Zur Rückfallprophylaxe von Schlaganfällen eignen sich Gefäßstützen in Hirnarterien nämlich schlechter als Medikamente, was sich - aller Plausibilität zum Trotz - erst zeigte, als "intrakranielle Stents" schon Jahre im Einsatz waren. Das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen warnte im Herbst vor einem erhöhten Zweitschlagrisiko.

Maßgeblich für das gute Gelingen des akuten Eingriffs ist auch das Geschick der Ärzte. Das zeigte Dippels Untersuchung deutlich: "Wir sehen in den neuen Studien bessere Ergebnisse, weil die Erfahrung der Mediziner wächst."

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Quelle:
SZ vom 19.12.2014
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