Beginn der Pubertät:Wenn Kinder zu früh reifen

Arschbomber oder Lederhäutiger? Typologie des Freibadbesuchers

Noch Kinder - oder fast schon Frauen? Die Pubertät beginnt immer eher.

(Foto: dpa)

Mit zehn Jahren die erste Regelblutung und mit zwölf bereits im Stimmbruch - immer mehr Mädchen und Jungen kommen schon im Kindesalter in die Pubertät. Ist das ein Problem?

Von Katrin Neubauer

"Mit neun schon Brüste und mit elf Schamhaare. Stimmt etwas nicht mit den Hormonen oder steckt da sogar eine Krankheit dahinter? Bei uns war das alles später", meinen viele Eltern. In ihrer Erinnerung waren frühreife Kinder die absolute Ausnahme, heute ist diese Entwicklung nichts Ungewöhnliches. Die Pubertät startet bei immer mehr Kindern früher - um wieviel eher ist allerdings umstritten.

So sollen vor 150 Jahren Mädchen ihre erste Regelblutung im Durchschnitt mit 16,6 Jahren bekommen haben. Heute liegt das Durchschnittsalter bei 12,8 Jahren, wie Untersuchungen des Robert-Koch-Instituts (RKI) ergaben. Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) stellte 1994 fest, dass die erste Menstruation 1,3 Jahre und der erste Samenerguss 1,6 Jahre früher als noch 1980 erfolgte. Auch US-amerikanische Forscher lieferten in verschiedenen Studien Zahlen über einen immer früheren Pubertätsbeginn.

An der Seriosität einiger dieser Studien zweifelt Wieland Kiess, Leiter der Kinderklinik der Universität Leipzig, jedoch. Der erste Samenerguss sei kein zuverlässiger Indikator, da sich die meisten Jungs gar nicht genau daran erinnerten, meint der Forscher. Für ungenau hält er auch etliche US-Studien. Amerikanische Kinder müssten sich für Untersuchungen nicht einmal ausziehen.

Kaum aussagekräftig seien auch Vergleiche mit dem 19. Jahrhundert. "Kontrollierte Studien hat es damals noch nicht gegeben. Die Zahlen stammen von Stadtschreibern und aus vormilitärischen Untersuchungen. Für Mädchen existieren aus dieser Zeit überhaupt keine genauen Angaben", so Kiess.

Neben den RKI-Daten hält er dänische Studien für methodisch am zuverlässigsten. Ein Team des Forschers Anders Juul von der Universität Kopenhagen hat zwischen 1991 und 1993 sowie zwischen 2006 und 2008 die Entwicklung von Tausenden Kindern untersucht. Diesen Ergebnissen zufolge setzte die erste Regelblutung bei Mädchen wie auch das Hodenwachstum bei Jungen im Schnitt lediglich drei Monate früher als in den 1990-er Jahren. Das heißt: Innerhalb von 15 Jahren hat sich der Pubertätsbeginn um ein Vierteljahr nach vorn verschoben. Über die Ursachen wird viel geforscht, wirklich belegt ist wenig.

Welche Folgen hat die Frühreife?

Den Startschuss für den Beginn der Pubertät gibt der Hypothalamus. Dessen Zellen schütten das Hormon Gonadotropin aus. Das regt die Hirnanhangdrüse an, die Hormone FSH und LH (follikelstimulierendes Hormon und luteinisierendes Hormon) freizusetzen, die für die Produktion der Sexualhormone Östrogen und Testosteron sorgen. Diese sind letztlich für die Entwicklung der Geschlechtsorgane verantwortlich.

Ein weiteres Hormon, das die sexuelle Reife stimuliert, ist Leptin. Dieses wird in Fettzellen produziert und teilt dem Gehirn mit, wann genügend Fettreserven vorhanden sind und die Reifung des Körpers beginnen kann. Übergewichtige Kinder haben besonders hohe Leptinspiegel. Forscher vermuten, dass der frühere Pubertätsbeginn auch mit der steigenden Zahl von übergewichtigen Kindern im Zusammenhang steht.

Aber auch schlanke Mädchen und Jungen reifen heute schneller als früher heran. Ein Grund könnte die fett- und eiweißreiche Ernährung sein, ein Luxus, der vor Jahrhunderten nur einem kleinen Teil der Bevölkerung vorbehalten war. Einige Wissenschaftler vermuten zudem, dass die in der Massentierhaltung eingesetzten Medikamente und Hormone Auswirkungen auf das hormonelle Geschehen im menschlichen Körper haben.

Unter Verdacht stehen auch industrielle Chemikalien. Es ist bekannt, dass Weichmacher wie Bisphenol A und Phtalate, die in Verpackungen und Kinderspielzeug vorkommen, wie Sexualhormone wirken. Sie wurden bereits im Blut von Schwangeren und Kindern gefunden. Mäuse, die mit phtalathaltiger Nahrung gefüttert wurden, hätten quasi "per Knopfdruck" pubertäre Merkmale entwickelt, sagt Kiess. In Europa dürfen seit 2006 Phtalate nicht mehr in Kinderspielzeug verwendet werden. Bisphenol A, das wie das Sexualhormon Östrogen wirkt, ist seit 2011 zumindest in Babyplastikfläschen verboten.

Doch ist die frühe Pubertät ein Grund zur Sorge? Bis vor einigen Jahren ordneten Sexualwissenschaftler Frühpubertierende in die Rubrik "Problemkinder" ein: Frühreife Mädchen hätten früher Sex und verhüteten nicht besonders konsequent. Die Folgen seien eine hohe Rate von Teenager-Schwangerschaften. Schwedische Studien zeigten zu Beginn des Jahrtausends, dass diese jungen Mädchen mit großer Wahrscheinlichkeit häufiger Geschlechtsverkehr und wechselnde Beziehungen haben und sich auch in der Berufswahl schwer tun, sagt Kiess.

Mittlerweile scheint das Katastrophenszenario von zunehmenden Kinder-Schwangerschaften und immer mehr Problemjugendlichen von der Realität widerlegt. Frühzeitige Schwangerschaften sind stark rückläufig. Waren nach Angaben des Statistischen Bundesamts 2001 noch über 15.000 Mädchen unter 18 Jahren schwanger, schrumpfte ihre Zahl im Jahr 2012 auf knapp 8.000. Noch deutlicher ist der Rückgang bei den 10- bis 15-jährigen Mädchen: Die Zahl der Schwangerschaften sank von über 3.000 (2001) auf 936 (2012).

Frühe Pubertät, früher Sex?

Offenbar ist auch die Annahme, dass eine frühe Pubertät zwangsläufig zu frühem Sex führt, nicht korrekt. Nach Befragungen der BZgA ist der Anteil von 14-jährigen Mädchen, die bereits Geschlechtsverkehr hatten, zwischen 2005 und 2014 von zwölf auf sechs Prozent gesunken. Bei den Jungen ging er von zehn auf drei Prozent zurück.

Auch der Familienberater und Buchautor Jan-Uwe Rogge mahnt zu Gelassenheit: "Eine zu frühe Pubertät ist nicht problematischer als eine zu späte", meint Rogge. Kinder verglichen sich in ihrer "peer group" miteinander. Wer mit seinem Körper da aus der Reihe fällt, könne es schwerer haben.

Frühreifen Kindern Aufklärungsgespräche aufzudrängen, hält er nicht für sinnvoll. "Gerade zwischen dem achten und zwölften Lebensjahr verweigern sich Kinder oft der Aufklärung durch die Eltern. Nicht, weil sie kein Vertrauen haben, sondern weil es ihnen peinlich ist. In dieser Zeit entwickeln sich ihre Schamgefühle", erläutert der Erziehungsexperte und Autor des Buches "Pubertät - Loslassen und Halt geben". Oft klärten sich Gleichaltrige untereinander auf. Aber auch weniger nahestehende Personen wie Lehrer, Trainer oder Großeltern seien für Gespräche geeignet.

"Bei 14- oder 15-Jährigen sollte man vor allem zuhören und auf Fragen eingehen können, ohne zu bagatellisieren, zu katastrophieren, Witze zu machen oder alles besser zu wissen", sagt Rogge. Gespräche verliefen dann eher anlassbezogen, zum Beispiel, wenn die Tochter bei einem Freund übernachten möchte.

Marita Völker-Albert von der BZgA sieht ebenfalls keinen Grund zur Furcht: "Die meisten Jugendlichen haben ein sehr verantwortungsvolles Sexualverhalten. In Sachen Verhütung stehen sie Erwachsenen heutzutage in nichts nach", sagt. Viele verhüteten aus Angst vor Aids sogar doppelt - mit Pille und Kondom.

Wer am Ende welchen Anteil an diesem Trend hat - ob Eltern, Schule, staatliche Aufklärungskonzepte - ist kaum herauszufinden. Fest steht, dass Teenies - ob frühreif oder nicht - viel "erwachsener" mit Sexualität umgehen, als von Experten lange postuliert wurde.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: