Barrierefreiheit:Mehrheit der Arztpraxen für Rollstuhlfahrer ungeeignet

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Eine Frau mit Rollator am Bamberger Hauptbahnhof: Mehr als sieben Millionen Menschen in Deutschland sind schwerbehindert. (Foto: David Ebener/dpa)

Draußen im Rollstuhl: Nur 22 Prozent der Allgemeinmediziner haben einen behindertengerechten Zugang. Bei Zahnärzten sieht es noch schlechter aus. Behindertentoiletten oder spezielle Untersuchungsmöbel sind überall die Ausnahme.

Von Thomas Öchsner, Berlin

Mehr als sieben Millionen Menschen in Deutschland sind schwerbehindert. Ihnen wird die "volle und wirksame Teilhabe an der Gesellschaft" zugesichert. So steht es in der Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen, die auch Deutschland ratifiziert hat. Darin verpflichten sich die Unterzeichner-Staaten, Maßnahmen zu ergreifen, damit Menschen mit Handicap nicht diskriminiert werden. Dazu gehört auch, Behinderten "den gleichberechtigten Zugang" zu Ärzten zu ermöglichen. Doch im Alltag stoßen die Betroffenen meist immer noch auf Barrieren. Das hat jetzt die Bundesregierung eingeräumt.

Die stellvertretende Vorsitzende der Links-Fraktion, Sabine Zimmermann, fragte nach, wie viele Arztpraxen in Deutschland für Behinderte eigentlich problemlos zugänglich sind. Die klare Antwort des Bundesgesundheitsministeriums: Nur 22 Prozent der Arztpraxen für Allgemeinmedizin verfügen über einen ebenerdigen beziehungsweise für Rollstühle geeigneten Zugang oder einen Aufzug. Am besten sieht es noch bei den Radiologen aus, bei denen gut jede dritte Praxis als barrierefrei eingestuft wird. Am schlechtesten schneiden Zahnmediziner und Kieferchirurgen ab: Nur 15 Prozent ihrer Praxisräume sind für Rollstuhlfahrer überwindbar.

Auch Parkplätze für Behinderte, leicht zugängliche Toiletten oder spezielle Untersuchungsmöbel sind eher selten. Dies bieten im Durchschnitt nicht einmal zehn Prozent aller Praxen. Solche Angebote seien, schreibt Annette Widmann-Mauz, Staatssekretärin im Gesundheitsministerium in ihrer Antwort, "bereits die Ausnahme".

Die Linken-Abgeordnete Zimmermann sagt deshalb: "Es ist bedauerlich, dass in nur so wenigen Arztpraxen Patienten mit Beeinträchtigungen behandelt werden können." Für viele Behinderte sei "die gesetzliche verbriefte Arztwahl nicht gewährleistet".

Die Bundesregierung soll sich nicht auf unverbindliche Absichtserklärungen beschränken

Verena Bentele, die neue Behindertenbeauftragte der Bundesregierung, dringt ebenfalls darauf, mehr zu tun: "Deutlich mehr als zehn Prozent der Deutschen haben eine Behinderung. Das heißt im Umkehrschluss: Mindestens jeder Zehnte braucht besondere Voraussetzungen, um eine optimale medizinische Versorgung zu erhalten." Gebärdensprache-Dolmetscher für gehörlose Menschen, barrierefreie Untersuchungsmöbel oder auch ein behindertengerechtes WC müssten deshalb im Bedarfsfall verfügbar sein. Bei neuen Zulassungen sollte auch das Kriterium Barrierefreiheit entscheidend sein.

Der Zugang zu Arztpraxen ist in den Bauordnungen der Bundesländer geregelt. In der Regel ist dabei vorgesehen, dass bei Neubauten die Praxen ohne Barrieren erreichbar sein müssen. Das kann viel Geld kosten, wie ein Fall vor dem Oberverwaltungsgericht Lüneburg (OVG) zeigt. Dabei wollte eine Bauaufsichtsbehörde die Einrichtung von Arztpraxen im Obergeschoss eines Gebäudes nur genehmigen, wenn ein Aufzug eingebaut wird. Die Ärzte argumentierten, die Kosten in Höhe von 50 000 Euro seien zu hoch. Auch könnten sie Patienten im Erdgeschoss in dort bereits bestehenden Praxen behandeln. Das OVG ließ jedoch keine Berufungsklage zu: Die 50 000 Euro Zusatzkosten rechtfertigten keine Ausnahme. Den Hinweis, dass eine Behandlung im Erdgeschoss möglich sei, erkannten die Richter ebenfalls nicht an, weil dieser zu unverbindlich sei und spätere Inhaber der Praxen nicht binde.

Die Bundesregierung will sich nun dafür starkmachen, "dass bis zum Jahr 2020 Arztpraxen zunehmend barrierefrei zugänglich werden", so wie dies im Nationalen Aktionsplan zur Umsetzung der UN-Konvention geplant ist. "Vorgesehen ist, dass die Bundesregierung gemeinsam mit der Ärzteschaft hierfür ein Gesamtkonzept vorlegt", heißt es in der Antwort des Ministeriums.

Derzeit werde geprüft, welche Anreize sich setzen ließen, "um die Anzahl barrierefreier Einrichtungen zu erhöhen". Die Linken-Politikerin Zimmermann bewertet dies positiv. Ein solches Programm müsse aber "substanzielle Fortschritte ermöglichen und darf sich nicht auf unverbindliche Absichtserklärungen beschränken", sagte sie. "Hier muss es auch darum gehen, Geld zur Verfügung zu stellen und die Ärzte zu unterstützen." Dafür setzt sich auch die Behindertenbeauftragte Bentele ein: Wichtig wären Fördermöglichkeiten für den Umbau bestehender Praxen, sagt sie.

Dagegen hätten auch die Mediziner nichts einzuwenden. Ein Sprecher der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) warnt allerdings davor, Ärzte, die sich vor Jahren für einen Standort entschieden hätten, im Nachhinein zu Investitionen von etlichen Tausend Euro zu zwingen. "Darüber müssen die Ärzte selbst entscheiden können." Keiner dürfe für seine Standortwahl bestraft werden. Der KBV-Sprecher kann sich aber vorstellen, dass zum Beispiel zinsgünstige Förderkredite der Staatsbank KfW helfen könnten, die Investitionen anzukurbeln.

© SZ vom 24.07.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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