Berlin, Charité. Der Arzt umfasst ihre Hand, drückt an den Knöcheln, zuerst an den oberen, dann wandert er die Finger hinab. "Keine Schmerzen?", fragt Tobias Alexander und schaut seine Patientin an. "Nein", sagt Petra Sperling. Sie lächelt. Der Chefarzt der Rheumatologischen Ambulanz wendet ihre gebräunte Hand und überprüft die Handfläche auf Schwellungen. "Schön", sagt er. Beide sehen sich in die Augen und lächeln, als könnten sie es immer noch nicht glauben.
Petra Sperling kommt gern hierher, ins Zimmer 03.039 eines der Backsteingebäude der Charité in Berlin-Mitte, in das die Sonne Lichtfetzen durch die Jalousien auf den Linoleumboden wirft. Die 67-Jährige mit der Kastenbrille und dem jugendlichen Pony weiß: Die Ärzte haben ihr nicht nur das Leben gerettet. Sie haben ihr etwas geschenkt, worauf sie nicht mehr zu hoffen wagte - ein Leben in Normalität.
Sperling hatte systemischen Lupus erythematodes, eine Rheuma-Erkrankung, die meist mit Gelenkschmerzen und Hautausschlag beginnt und in schweren Fällen mit Organversagen endet. Es erschien aussichtslos. Dass sie heute ihre Geschichte erzählen kann - und das völlig gesund - gleicht einem medizinischen Wunder. Es ist die Geschichte einer Wahnsinnstherapie, die hoffnungslosen Patienten neue Hoffnung gibt, aber mit großen Risiken einhergeht. Sperling musste erst durch die Hölle, um ihren Körper neu zu starten: "Damals hätte ich lieber sterben wollen."
Der Rheumatologe Tobias Alexander von der Berliner Charité.
(Foto: Annette Hauschild)Weltweit arbeiten Ärzte daran, Autoimmunkrankheiten zu besiegen. Medikamente können die Leiden oft verlangsamen - heilen können sie nicht. Seit Mitte der 1990er-Jahre erproben Hämatologen und Immunologen eine Therapie, mit der sie den Krankheitsverlauf ausbremsen, bei manchen sogar rückgängig machen wollen: den "Immunreset". Sie behandeln ihre Patienten als hätten diese Leukämie, mit Chemotherapie und Knochenmarkstransplantation. Die Idee dahinter: Ist das Immunsystem einmal ausgeschaltet, greift es den Körper nicht mehr an. Erst vor ein paar Wochen berichtete das Fachblatt New England Journal of Medicine über Patienten, die auch längerfristig von der radikalen Behandlung profitierten.
Noch steckt die Therapie wegen ihrer hohen Risiken in Deutschland in einer Nische. Nur Härtefälle werden behandelt und nur, wenn kein Medikament mehr hilft. Meist kommt die Methode in wissenschaftlichen Studien zum Einsatz, mal als eigens genehmigter Heilversuch. In Europa waren das in zwei Jahrzehnten 2000 Patienten. Fast die Hälfte von ihnen hatte Multiple Sklerose, ein Viertel Sklerodermie, eine Krankheit, bei der sich das Bindegewebe verhärtet. Und vier Prozent Lupus.
Petra Sperling war Mitte zwanzig, als sie merkte, dass etwas mit ihr nicht stimmte. Wenn sie morgens aufstand, um ihre Söhne zu wecken, spürte sie die steifen Gelenke. Anfangs achtete sie kaum darauf, die Schübe klangen ja wieder ab. Aber sie kamen wieder, wurden schlimmer. Wenn Sperling zur Arbeit fuhr, waren ihre Hände und Füße manchmal so geschwollen, dass sie weder den Schaltknüppel umfassen noch das Gaspedal treten konnte. Ihre Haut juckte, entzündete sich. Irgendwann begann ihr ganzer Körper zu schuppen.
Sie konnte vor Schmerzen kaum laufen und atmen. Niere und Herz waren angegriffen
Erst Mitte der 1990er-Jahre teilte ihr ein Rheumaspezialist, mit, dass sie an "Lupus" leide. Systemischer Lupus erythematodes ist selten und doch so etwas wie der Prototyp einer Autoimmunkrankheit. Immunzellen samt Antikörper kommen dann nicht nur gegen Eindringlinge wie Bakterien oder Viren zum Einsatz, wie bei gesunden Menschen. Bei diesen Patienten greifen Antikörper das körpereigene Gewebe an. Der Körper zerstört sich selbst.
Viele Betroffene können mit Medikamenten gut leben. Anderen dagegen scheint nichts zu helfen, wie bei Petra Sperling. Als sie 1996 die Charité betrat, konnte sie vor Schmerzen kaum laufen und atmen. Niere und Herz waren angegriffen. Die Ärzte versuchten, ihre fehlgeleitete Immunabwehr mit Medikamenten zu unterdrücken. Nichts schlug an. Nur Morphium linderte ein wenig die Schmerzen. Als die Ärzte sie fragten, ob sie an einer Studie teilnehmen wolle, dem Immunreset, zögerte Sperling nicht lange. Die Liste möglicher Nebenwirkungen umfasste vier Seiten: "Herzversagen", las sie da. Und "Lungenembolie". Doch habe es keine Alternative für sie gegeben, sagt Sperling: "Ich hab's gemacht, weil ich leben wollte."
In einem Glas-Ziegel-Bau des Deutschen Rheuma-Forschungs-Zentrums (DRFZ) auf dem Gelände der Charité hat Andreas Radbruch jahrelang nach den Ursachen von Autoimmunkrankheiten gesucht - und sie inzwischen gefunden: Gedächtniszellen, die falsch programmiert sind und deshalb fortwährend Autoantikörper produzieren. "Sie sind der Motor chronischer Entzündungen", sagt der wissenschaftliche Direktor des DRFZ. "Und wenn man das Immunsystem nicht neu startet, wird es keine Heilung geben." Bei Petra Sperling sah der Neustart so aus: Zuerst filterten die Ärzte alle Stammzellen aus ihrem Blut und deponierten sie in einer Tiefkühltruhe, für später. Nun folgte die Chemotherapie: Ein Cocktail aus Zellteilungshemmern und aus Kaninchen gewonnenen Antikörpern gegen menschliche Immunzellen vernichtete die krankmachenden Gedächtniszellen und mit ihnen Sperlings gesamtes Immunsystem.
Vier Jahre lang mied Sperling Kinos, Busse und Kaufhäuser
In den Wochen danach sah Sperling nicht viel mehr als Schläuche und die besorgten Blicke der Ärzte über dem Mundschutz. Auf der Isolierstation taten die Mediziner alles, um sie vor Infektionen zu bewahren. Antibiotika sollten Krankheitserreger in Schach halten. Die Luft im Einzelzimmer wurde gefiltert, ihr Essen hoch erhitzt. Nach der Chemotherapie holten die Ärzte ihre Stammzellen aus der Tiefkühltruhe und legten mit einer Infusion die Basis für den Wiederaufbau ihrer Abwehrkräfte. Zu Hause hatte Sperling zunächst Mühe, die Treppe hinauf in den dritten Stock zu gelangen. Vier Jahre lang ging Sperling nicht ins Kino, mied Busse und Kaufhäuser, Türklinken drückte sie mit dem Ellenbogen runter. Bis heute hat sie stets ein Desinfektionsmittel dabei.
Die Abwehrkräfte kehrten zurück, reagierten anfangs nur zögerlich auf Keime. Gefürchtet sind vor allem Herpes-Viren oder Hefe-Pilze. Wenn die sich ungebremst ausbreiten, ist der Körper machtlos, wie bei jener Patientin damals, im Jahr 2002, daran erinnert sich Studienleiter Tobias Alexander genau. Nach dem Immunreset ging es ihr schlechter und schlechter. Zu spät fanden die Ärzte den Grund: Ein Pilz hatte sich im Gehirn der Frau ausgebreitet, sie war nicht mehr zu retten.
Alexander fragte sich damals, ob sie ein zu hohes Risiko eingegangen waren. Der Mediziner weiß aber auch, dass er mit der Therapie vielen Patienten das Leben gerettet hat. Mehr als die Hälfte von ihnen verlässt die Klinik, ohne Medikamente zu brauchen. Selbst wer einen Rückfall hat, spricht wieder auf Arzneimittel an. Und was wäre die Alternative? "Wenn man diese schwerkranken Patienten nicht behandelt, sterben sie", argumentiert Alexander.