Außenansicht: Die Not der Psychiater:Alle reden vom Burn-out - kaum einer von Depression

Lesezeit: 3 Min.

Gestresst, müde und ausgebrannt - das Thema Burn-out lenkt derzeit so stark von Patienten mit ernsteren psychischen Störungen ab, dass die Betroffenen unter die Räder zu geraten drohen.

Andreas Meißner

Stefan R. ist 36 Jahre und arbeitet als Speditionskaufmann, er ist erfolgreich, eloquent und heiteren Gemüts. Aber lange Jahre hatte er Cannabis konsumiert und auch gekokst; er wechselte dann plötzlich zwischen Ausgelassenheit und tiefer Verzweiflung, fühlte sich schließlich bedroht und verfolgt und schien verwirrt zu sein. Klinikaufenthalte folgten. Das ist 15 Jahre her. Er kommt heute in die Praxis, redefreudig und etwas forsch, mit deutlich zu viel Energie. Wieder fühlt er sich ständig beobachtet.

Andreas Meißner, 46, ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie in München sowie Mitglied im Vorstand der Arbeitsgemeinschaft Münchner Nervenärzte und Psychiater. (Foto: privat)

Derzeit jedoch zieht das Thema Burn-out die Aufmerksamkeit auf sich - so sehr, dass Menschen wie Stefan R. unter die Räder zu geraten drohen. Diese Woche findet in Berlin der Kongress der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde mit mehr 8000 Teilnehmern statt; "Macht Arbeit krank?" heißt ein Thema dabei.

Wieder werden jene im Mittelpunkt stehen, die sich irgendwie gestresst, müde und ausgebrannt fühlen. Das wäre nicht schlimm, wenn die anderen nicht vergessen würden: die Patienten mit ernsteren psychischen Störungen.

Zum Glück werden solche Störungen heute eher erkannt als früher; auch ist die Schwelle, zum Psychiater oder Nervenarzt zu gehen, gesunken. Doch deren Kapazitäten reichen bei weitem nicht aus. Bei einem Notfall sind die Wartezeiten noch kurz, insgesamt aber ist es kaum mehr möglich, der Nachfrageflut Herr zu werden. Krisen, Suizidgedanken, schwere Depressionen oder Arbeitsplatzkonflikte lassen das Praxistelefon häufig klingeln, dazu kommt die oft jahrelange Begleitung von chronisch Kranken wie Herrn R. mit immer wiederkehrenden Krisen.

Der Psychiater muss körperliche Ursachen abklären und behutsam sein bei Aggression, überschießender Energie oder mangelnder Krankheitseinsicht, wie dies bei akut schizophren oder manisch Erkrankten oft der Fall ist; er muss Angehörige und ambulante Dienste einbeziehen. Auch die Aufklärung über oft nötige Psychopharmaka nimmt breiten Raum ein.

Die Psychiater und Nervenärzte kämpfen derzeit selbst mit vielen Sorgen. Die Zeitnot ist groß, und bei einem festgelegten Honorar von maximal 70 Euro pro Patient und Quartal (!) kann ein Psychiater nur maximal 45 Minuten Gespräch in diesem Zeitraum anbieten - viel zu wenig zum Beispiel für schwer depressive Patienten. Für sie wären wöchentliche Termine dringend nötig. So bringt die Not der Psychiater auch die Patienten in Not.

Dabei wäre oft gar nicht gleich eine tiefgehende Psychotherapie nötig, wie sie mit durchschnittlich 40 Stunden durchgeführt wird und mit einem festen Satz von 80 Euro pro Stunde schnell hohe Kosten verursacht. Nicht jeder Burn-out-Betroffene muss seine Kindheit aufarbeiten - nicht jeder will das auch.

Studien haben gezeigt, dass ein Viertel der psychisch Kranken eine Psychotherapie machen, was jedoch drei Viertel des zur Verfügung stehenden Budgets verschlingt. Die anderen 75 Prozent der Patienten werden dagegen durch Nervenärzte und Psychiater behandelt - ihnen stehen lediglich die restlichen 25 Prozent des entsprechenden Honorartopfes zur Verfügung.

Dadurch wächst die Gefahr, dass die psychotherapeutische Behandlung oft leichter, dafür eloquenter psychisch Kranker, die meist noch über ein stabiles soziales Netz und einen Arbeitsplatz verfügen, vieles an Ressourcen verbraucht. Ressourcen, die dann fehlen für die psychiatrische Versorgung von Patienten mit ausgeprägten Störungen wie schweren Depressionen und Psychosen.

Kassenärztliche Vereinigungen und Krankenkassen sind daher gefordert, die Schieflage in der Versorgung psychisch Kranker zu korrigieren. Nötig wäre es, für die psychiatrische Basisversorgung mehr bezahlte Termine anbieten zu können, ohne dass es immer gleich wöchentliche Therapiestunden sein müssen. Die wären für alle psychisch Kranken auch gar nicht finanzierbar.

Zudem sind viele Psychotherapien nach ein bis zwei Jahren beendet; etliche Patienten, wie Herr R., benötigen jedoch langfristige Betreuung. Zudem könnten schneller abklingende psychische Störungen mit einigen psychiatrischen Gesprächsterminen gut behandelt werden, ohne dass eine Überweisung zur Psychotherapie nötig wäre. Heute aber sind Psychiater häufig dazu gezwungen, mangels anderer Möglichkeiten Patienten auf die oft beklagten langen Wartelisten der Therapeuten zu schicken.

Selbstverständlich ist die Psychotherapie weiter zu fördern. Und 80 Euro Stundensatz sind schließlich nicht übertrieben: Anwälte und andere Freiberufler würden dafür keinen Stift in die Hand nehmen. Auch Psychiater machen ja öfters eine Psychotherapie, beide Ansätze stehen überhaupt nicht in Konkurrenz.

Aber solange die so oft gepriesene "sprechende Medizin" bei Nervenärzten wie Psychiatern nur zu Dumpingpreisen möglich ist, wird sich an unzureichender Behandlung psychischer Erkrankungen und vielen Fehltagen dadurch wenig ändern (bei oft nur zwei möglichen Terminen im Quartal muss dann eben auch mal über sechs Wochen am Stück krank geschrieben werden).

Patienten wie Herr R. mit weniger medien- und psychotherapietaugliche Krankheiten haben dabei eine besonders schlechte Lobby - wie auch die Psychiater selbst. Die schlechte Bezahlung, das Image als ungeliebter Pillenverschreiber, kaum Möglichkeiten, die Fähigkeiten zur Gesprächsführung in Ruhe anzuwenden und eine ausufernde Bürokratie - all das macht diesen Beruf zunehmend unattraktiv.

Es gibt kaum noch Nachwuchs, Kliniken haben schon heute große Schwierigkeiten, freie Stellen zu besetzen, was wiederum für die verbleibenden Ärzte die Arbeitsbelastung immens erhöht. Die in den letzten Jahrzehnten menschlicher gewordene Psychiatrie läuft daher Gefahr, durch Zeitnot, niedrige Honorierung, mangelndes Interesse der Öffentlichkeit und Überlastung der Psychiater in Kliniken und Praxis wieder Rückschritte zu erleiden.

Herrn R. geht es gut - derzeit. Er nimmt eine höhere Dosis seiner Medikamente ein, hat den Stress am Arbeitsplatz verringert. Eine längere Krankschreibung oder gar ein Klinikaufenthalt konnten so vermieden werden. Vier Termine im Quartal zu jeweils 20 Minuten haben dafür gereicht. 80 Minuten in drei Monaten, das ist nicht viel. Doch eigentlich hätten wir nur halb so lange reden dürfen.

© SZ vom 25.11.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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