Arzt-Patienten-Beziehung:Mehr Verständnis für die Nöte der Patienten

Viele Frauen würden gerne häufiger zur Mammografie gehen. Medizinisch gesehen ist das nicht sinnvoll. Ärzte müssen lernen, mit dem Dilemma umzugehen.

Kommentar von Werner Bartens

Als Patient muss man sich ständig fühlen wie ein ungezogener Schüler, der alles falsch macht, seine Hausaufgaben vergessen hat und im Unterricht nichts kapiert. Zu viel gegessen und dann auch noch das Falsche, zu wenig Bewegung, zu oft Alkohol (und dann auch noch der falsche), kaum Zeit für Entspannung und was, Sie rauchen immer noch? Und Sie sitzen den ganzen Tag? So kann das ja nichts werden. Setzen, sechs. Da hilft es nichts, beim Arzt ruckzuck ein paar Pillen als Rundumsorglospaket verschrieben haben zu wollen, zum Check-up zu gehen und jedes halb gare Gesundheitsversprechen zu befolgen.

Es ist ein Dilemma: Menschen geben zwar nur ungern ihre Gewohnheiten auf, aber sie wollen durchaus etwas für ihre Gesundheit tun und sich gegen drohende Krankheiten wehren. Dieser Impuls ist vollkommen verständlich, auch wenn er manchmal zu irrationalen Auswüchsen führt. So hat eine Erhebung diese Woche ergeben, dass viele Frauen gerne jährlich zur Mammografie gehen würden anstatt nur alle zwei Jahre. Man muss doch etwas für sich tun, besser einmal zu viel als zu wenig, lauten die populären Begründungen für ein derartiges Verhalten.

Eine der größten Gefahren im Gesundheitssystem ist Überdiagnose und Übertherapie

Der Nutzen der Mammografie ist insgesamt umstritten, jährliche Untersuchungen bringen eventuell nicht mehr Vorteile, sondern mehr Risiken mit sich - aber darum geht es hier nicht. Es geht darum, das Bedürfnis der Menschen nach Sicherheit und Entlastung ernster zu nehmen. Viele Menschen gehen zum Arzt, weil sie hören wollen: Da ist nichts, alles in Ordnung. In einer solchen Situation nützt es wenig, über die neuesten Leitlinien belehrt zu werden oder von Besserwissern das Pro und Contra zur Früherkennung nach dem neuesten Stand der evidenzbasierten Medizin erklärt zu bekommen.

Es ist für Kranke nicht leicht, Unsicherheiten auszuhalten. Manchmal gibt es keine Entlastung. Jeder, der mal in der Rolle des Patienten war, weiß das. Auch für Ärzte ist es nicht einfach, sich mit den Ängsten und Sorgen der Kranken auseinanderzusetzen. Wie viel leichter fällt es hingegen, ein paar weitere Untersuchungen anzuordnen, Tabletten zu verschreiben oder zur Operation zu raten. Zum Wohle der Patienten ist das aber längst nicht immer.

Eine der größten Gefahren in modernen Gesundheitswesen besteht mittlerweile in Übertherapie und Überdiagnose. Patienten bekommen manchmal schlicht zu viel Medizin, werden dadurch kränker, nicht gesünder. Technik und Tabletten sind selten die richtige Antwort auf Nöte, Ängste und Unsicherheit. Ärzte und Patienten müssen dazulernen und sich dabei nicht wie verzogene Schüler vorkommen. Die Nachhilfe tut beiden Seiten gut.

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