Süddeutsche Zeitung

Medizin:Lehre ohne Leiche

  • Der Anatomiekurs ist mit Abstand der teuerste Kurs im Medizinstudium.
  • Einige Hochschulen lassen ihre Studenten daher an Modellen oder mittels Software lernen.
  • Doch es gibt Zweifel, ob damit nicht wichtige Erfahrungen versäumt werden.

Von Susanne Donner

Der Leichnam, über den sich Klara Stock im dritten Semester gebeugt hatte, war ein Hüne, vielleicht 1,90 Meter groß. Behutsam setzte sie das Skalpell an, sie erwartete Blut. Aber der gelbliche Leib des Körperspenders war mit Ethanol und Formaldehyd konserviert. Stock war zu zaghaft. Nur mit ganzer Kraft konnte sie die dicken Hautschichten durchtrennen.

Auch im Körperinneren: alles riesig. Die Halsschlagader so dick, dass zwei ihrer Finger hineinpassten. "Das sah doch anders aus als im Lehrbuch", erinnert sich die Studentin, die heute im neunten Semester Medizin in Halle studiert. Vor allem die Variabilität der Gewebe überraschte sie. Bei ihrem Hünen zeichneten sich die Muskeln deutlich vom Bindegewebe ab. Der Leichnam auf dem Nachbartisch war hingegen so zart, dass die Studierenden einige Muskeln kaum finden konnten.

Wenn Stock heute am OP-Tisch steht und sich etwa vergegenwärtigen muss, wo die Gallenblase liegt, kommen ihr wieder die Bilder aus diesem Kurs in den Sinn. "Ich überlege, wie sah das aus, wo lag das. Was haben wir hochgehoben und welche Gewebe beiseitegelegt." Die Anatomie hat sich fotografisch in ihr Gehirn eingeprägt.

"Nur, was man angefasst hat, hochgehoben und gedreht hat, kann man wirklich begreifen", sagt die Anatomin Heike Kielstein von der Universitätsklinik Halle. Das Zergliedern von Leichen hat eine lange Tradition an den medizinischen Fakultäten. "Ich kämpfe wie eine Löwin für den Erhalt dieser Veranstaltung", sagt Kielstein.

Nicht alle mögen die Lehre an den Toten. Der Anatomiekurs ist mit Abstand der teuerste Kurs im Medizinstudium. Pro Körperspender fallen vier- bis fünfstellige Beträge an, der Unterhalt der Institute nicht eingerechnet. Herbert Lippert, ein berühmter deutscher Anatom, fand diese Kurse bereits in den Siebzigerjahren nicht mehr zeitgemäß. Er fordert bis heute das Ende dieser Pflichtveranstaltung.

In manchen Hochschulen hat das Umdenken bereits angefangen. In Mannheim wurde das Medizinstudium 2006 neu organisiert. Die Studenten präparieren dort seither nur noch zwei Wochen an der Schwesterfakultät in Heidelberg eine Leiche. Die European Medical School in Oldenburg verfügt nurmehr über einen virtuellen Präpariersaal. Das Bundesgesundheitsministerium will das Medizinstudium ab 2020 reformieren und praxisnäher gestalten. Der Anatomiekurs könnte ein Kürzungskandidat sein, fürchtet Kielstein.

25 Leichen benötigen die Studierenden in Halle jedes Jahr. Dem stehen Hunderte Körperspender auf einer Warteliste gegenüber, die noch zu Lebzeiten bescheinigen, ihren toten Körper für Forschung und Lehre hergeben zu wollen. Wegen des Andrangs nehme man nur noch Anwärter aus dem Raum Halle, sagt Kielstein. "Der Grund für die Nachfrage ist die günstige Form der Bestattung: 750 Euro verglichen mit etlichen Tausend bei konventioneller Beisetzung. Im Anschluss an die Lehrveranstaltungen wird der Leichnam auch bei uns auf dem Ehrenfriedhof beigesetzt."

In Mannheim werden keine Körperspender benötigt. "Wir sehen uns nicht als Vorbild für andere Hochschulen", sagt der Studiendekan Thomas Wieland von der Medizinischen Fakultät Mannheim der Universität Heidelberg. Dort lernen die Studenten nach Körperfunktionen - Verdauung, Bewegungsapparat, Nervensystem. Das Präparieren einer ganzen Leiche passt schlecht in dieses Konzept; in jedem Semester müsste ein anderer Bereich des Toten geöffnet werden. Deshalb vermitteln die Mannheimer die Anatomie vor allem an Modellen, die aus dem Plastinarium des Gunther von Hagens stammen.

Der Mannheimer Neuroanatom Christian Schultz lässt durchblicken, dass er und seine Kollegen häufig angefeindet würden, weil sie die Lehre an der Leiche angeblich marginalisiert hätten. Doch er widerspricht: "Unsere Studierenden schneiden verglichen mit anderen Universitäten sehr gut ab. Sie erlernen die Anatomie genauso gründlich."

Die Studenten haben sich an die Plastinate gewöhnt. "Die sind hart, nicht glitschig. Sie riechen nicht, und man hat weniger Angst", sagt Philipp Lautenschläger, Medizinstudent aus Heidelberg, 22. In dem zweiwöchigen Kurs an echten Leichen habe er kaum Zusätzliches gelernt. Seine Studienkollegin Marie Hofmann hat die vierzehn Tage an der echten Leiche noch vor sich. Ihre Erwartungen sind groß: "Ich möchte einen Körper von innen sehen, bevor es im OP passiert", sagt sie. Sie findet es zwar gut, an den Plastinaten zu lernen, aber das haptische Erleben fehlt ihr. "Die Darmschlinge, die beweglichen Bauchorgane, das bleibt doch recht abstrakt. Bei den Modellen kann ich nichts rausnehmen."

Hofmann und Lautenschläger sind nicht unzufrieden mit der Anatomielehre ihrer Fakultät. Deutlich wird aber auch, dass sie sich kein abschließendes Urteil zutrauen. "Ich will mir nicht anmaßen zu sagen, was besser ist, weil ich den ausgedehnten Anatomiekurs nicht kenne", sagt Lautenschläger.

Als Alternative zur Lehre an den Toten gibt es außerdem Software für virtuelle Leichen und digitale Seziertische. Nahezu jede Universität arbeitet auch damit. Daran habe er nicht gut lernen und die dreidimensionalen Gewebe schlecht erkennen können, erinnert sich Lautenschläger. Am Computer kann man zwar in die Leber scrollen oder sich durch das Gehirn klicken, aber die Darstellungen bleiben zweidimensional, können nicht den Eindruck ersetzen, der sich nach dem Öffnen eines Leibes bietet.

Herbert Lippert, Gegner des Präparierens von Leichen, ersann indes "die Anatomie am Lebenden" - in der Zeit der 68er-Bewegung. Die Studierenden ertasten Schulterblätter, Schlüsselbein und Aorta bei Kommilitonen. "Diesen Kurs finden sie oft schrecklich, weil sie sich ausziehen müssen und in Bikini und Badehose voreinander stehen", sagt Anatomin Heike Kielstein aus Halle. Sie lehrt dennoch auch diese Variante - aber zusätzlich zur Lehre an der Leiche: "Viele Ärzte haben heute aufgrund der Digitalisierung der Medizin Scheu, Patienten zu berühren und abzutasten. Diese sinnliche Information ist aber sehr wichtig", so Kielstein.

Eines wird deutlich: Die Alternativen zum traditionellen Anatomiekurs - das Lernen an Modellen, an virtuellen Leichen oder an Lebenden - unterscheiden sich vor allem im Erleben. Bleibt also die Frage, wie wichtig die Erfahrung an der Leiche für einen Arzt ist?

Schon vor zehn Jahren rangen Mediziner in den USA um den nostalgisch anmutenden Präparierkurs. Etliche Hochschulen stauchten ihn zusammen, und ausgerechnet die renommierte Harvard Medical School in Boston schaffte ihn kurzzeitig sogar ab. "Davon ist man wieder ganz abgekommen", sagt Anette Wu, Anatomin an der Columbia University in New York. "Die Lücken in der Erfahrung der Studierenden waren doch merklich."

Zum Beruf jedes Arztes gehört auch die Leichenschau, bei der er den toten Körper entkleiden, drehen und in Augenschein nehmen muss. Schon lange gibt es fundamentale Kritik an der Qualität, weil immer wieder offenkundig falsche Todesursachen in den Dokumenten auftauchen. Einer der wichtigsten Mängel: Die Ärzte fassen das Opfer erst gar nicht an. Sie haben Berührungsängste vor dem unangenehm riechenden Leichnam, außerdem wird die Untersuchung schlecht bezahlt. Kielstein sagt: "Im Anatomiekurs lernen die Studierenden den Umgang mit einer Leiche. Sie erfahren ganz anschaulich, was Krankheiten im Körper machen."

In einigen EU-Ländern sind Anatomiekurse unüblich. Die Medizinstudentin Klara Stock lernte während eines Praktikums an einem griechischen Krankenhaus viele angehende Ärzte kennen, die nie eine Leiche geöffnet hatten. Es geht also auch ohne, könnte man daraus schließen. Stock wendet jedoch ein: "Ich war erschrocken, dass die Mediziner dort oft selbst beklagten, dass sie gar nicht genau wüssten, wie dieses oder jenes Gewebe aussehe. Sie fühlten sich bei den OPs dadurch unsicherer als ich."

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SZ vom 03.04.2019
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