Süddeutsche Zeitung

Anatomie:Mehr Details bitte

Es ist eine Frage der Gesundheit und des Respekts vor der Vielfalt der Menschen, in Anatomiebüchern nicht nur die männliche weiße Norm abzubilden.

Kommentar von Vera Schroeder

Zwei wissenschaftliche Illustrationen eroberten in den vergangenen Tagen das Internet: zum einen die anatomische Abbildung eines schwarzen Fötus im Bauch einer schwangeren schwarzen Frau. Gezeichnet hat das Bild ein nigerianischer Medizinstudent namens Chidiebere Ibe, der ein medizinisches Lehrbuch veröffentlichen möchte, das nur Illustrationen von schwarzen Menschen enthält.

Zum anderen das "weltweit fortschrittlichste" 3-D-Modell des weiblichen Körpers eines großen Wissenschaftsverlags, was genauer heißt: das erste anatomische 3-D-Modell einer Frau, bei dem nicht einfach nur wie sonst üblich bestimmte Bereiche eines männlichen Standardkörpers durch weibliche Merkmale ersetzt wurden, sondern der Körper insgesamt einer weiblichen Norm entsprechend abgebildet wurde.

Erst jetzt fällt auf, wie sehr man an die anatomische Norm des weißen Mannes gewöhnt war

Zwei genaue Abbildungen von Frauen, wie sie milliardenfach jeden Tag auf dieser Erde herumlaufen, haben im Jahr 2022 also das Zeug zur Sensation? Das Überraschende liegt in diesem Fall in der Überraschung selbst. Erst durch den Anblick der neuen Illustrationen fällt auf, wie sehr man bei wissenschaftlichen Zeichnungen bisher an die anatomische Norm des weißen Mannes gewohnt war.

Warum aber soll das eine Rolle spielen? Auch jenseits von Geschlechtsorganen gibt es anatomische Unterschiede zwischen Männern und Frauen, deren systematische Vernachlässigung in der Forschung zum Beispiel dazu führt, dass Herzinfarkte bei Frauen später erkannt werden als bei Männer. Das Fach der gendersensiblen Medizin arbeitet diese Geschlechter-Datenlücke auf. Ebenso eindeutig ist belegt, dass Schwarze und People of Color in der medizinischen Forschung nicht gleichermaßen berücksichtigt werden wie Weiße. Das hat viele Konsequenzen, in Bezug auf Anatomielehrbücher betrifft es zum Beispiel die schlechtere Diagnostik bestimmter Hautkrankheiten, die bei schwarzer Haut anders aussehen als bei weißer.

Dazu kommt die Wahrnehmungsverzerrung, die entsteht, wenn der männliche, weiße Körper sich als anatomischer Normalfall in die Köpfe der Betrachtenden einprägt, statt der viel diverseren Realität.

Nicht zuletzt ist es eine Frage des Respekts vor dem Wert der Repräsentation, nicht nur die Menschen in Anatomiebüchern zu zeigen, die in der langen, von Sexismus und Rassismus durchzogenen Geschichte der Medizin bisher das Sagen hatten, sondern auch alle anderen, die aus diesen Büchern in Zukunft lernen werden. Und die, die diese Lernenden später behandeln.

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