Süddeutsche Zeitung

Altenpflege:Eine Stadt hilft sich selbst

Die Idee ist bestechend vernünftig: Wer kann, hilft den Alten und bekommt später im gleichen Maße Hilfe zurück. Ein Besuch im schwäbischen Riedlingen, das das Schicksal seiner Alten selbst in die Hand nimmt.

Von Berit Uhlmann

Mit einer "Bilderbuchlandschaft" werben die Stadtmanager hier im Schwäbischen. Mit der mächtigen Donau, die sich wieder ungezähmt Land greifen darf, mit weiten Wiesen. Die Natur hat die Landwirtschaft ersetzt, die bis vor einigen Jahrzehnten die Lebensgrundlage dieser Region war. Dann veränderte sich die Wirtschaft, die Jungen suchten sich Arbeit in den Bürotürmen und Fabrikhallen irgendwo auf der Welt, zurück in der Bilderbuchlandschaft am Rande der Schwäbischen Alb blieben die Alten. "Wer soll für sie sorgen?", fragte Josef Martin, Mitglied im Gemeinderat der Stadt Riedlingen. Das war in den 1980er Jahren - Antworten waren damals so rar wie heute.

Die Einwohner der schwäbischen Stadt entschieden sich schließlich für ein Modell, so bestrickend vernünftig und sozial, dass man sich fragt, warum Riedlingen nicht längst überall ist. Wer kann, hilft den Alten und bekommt dafür später im gleichen Maße Hilfe zurück. 1991 gründeten die Riedlinger eine Seniorengenossenschaft. Sie entwarfen eine Art Generationenvertrag für die Pflege, mit Zeitkonten, auf denen der Anspruch der Helfer für die späteren Jahre dokumentiert wird.

Wie fühlt es sich also an, mit einem solchen Hilfepolster dem Alter entgegenzusehen? Der Fahrer, der den alten Mitgliedern der Genossenschaft Mittagessen nach Hause liefert, stutzt. Hilfe für später gutschreiben lassen? Tolle Sache, aber nicht für ihn. Er hat eine andere Option gewählt, er lässt sich eine Aufwandsentschädigung zahlen, keine große Summe, doch "ein schönes Urlaubsgeld!", und dann eilt er davon mit seinem warmen Essen und dem Elan derer, für die das Alter eher etwas Abstraktes ist.

"Das Alter ist noch so weit weg", sagen Maria Friedrich und Elisabeth Blaicher. Es klingt wie ein Stoßgebet. Die Frauen sind 55 und 63 Jahre alt und arbeiten freiwillig in der Tagespflegeeinrichtung mit. Gerade haben sie fast 20 alte Menschen zum Mittagsschlaf gebettet. Sie haben Decken über gebrechliche Körper gebreitet, Arme gestreichelt, wie immer den Gute-Nacht-Kuss der demenzkranken Johanna empfangen. Als die ersten Unterkiefer schwer vom Schlaf herabsinken, erschlaffen für einen Moment auch die Züge der beiden Frauen.

Es war kein leichter Vormittag. Eine Helferin war kurzfristig ausgefallen. Die Betreuerinnen mussten einen Streit schlichten, es ging um den Platz an der Stirnseite des Tisches und es war nicht hilfreich, dass eine der Streitenden schwerhörig war. Sie mussten zitternde Empörung dämpfen, als einer der alten Herren befand, sein Gebiss könne doch ganz prima auf dem Gemeinschaftstisch ruhen. Sie sorgen sich um einen Senioren, der immer wieder stöhnt, weil er Schmerzen im Bein hat, die sie sich nicht erklären können.

Acht Stunden lang kümmern sich die beiden Helferinnen gemeinsam mit zwei ausgebildeten Pflegekräften um die Alten. Sie singen mit ihnen, wohnen einem Gottesdienst bei, schwätzen, wie man hier sagt. Sie schieben Rollstühle, schneiden Speisen klein, binden Schuhe zu, wechseln Windeln und versorgen wunde Stellen auf der papierdünnen Haut.

Acht Stunden könnten sie sich heute gutschreiben lassen - einzulösen in der Zukunft, wenn sie selbst nicht mehr für sich allein sorgen können. Bei aller Aufgeklärtheit: Zeit der Hilfsbedürftigkeit ist keine attraktive Währung. Geld schon. Auch die beiden Helferinnen haben sich gegen das Zeitkonto entschieden, sie arbeiten auf 400-Euro-Basis in der Tagespflege. Die meisten Mitarbeiter der Genossenschaft machen es so.

Ist der Hilfetausch also eine gescheiterte Idee? Joseph Martin, Leiter der Seniorengenossenschaft, sieht das pragmatisch. Die Jüngeren bessern durch die Tätigkeit in der Genossenschaft ihr Einkommen auf und können auf diese Weise mehr für die eigene Altersvorsorge zurücklegen. Die Alten können durch die vielen freiwilligen Helfer preisgünstigere Hilfe bekommen. "Auch so funktioniert das Modell".

Das Modell der Seniorengenossenschaft

Die Leistungen der Genossenschaft kann jeder Einwohner beanspruchen, unabhängig davon, ob er sich selbst engagiert hat oder nicht. Wer nie mit geholfen hat, zahlt für die Hilfe. Die Preise sind verhältnismäßig günstig, weil so viele freiwillige Helfer mitarbeiten. Sie erhalten eine Gutschrift auf einem Zeitkonto, die sie später für kostenlose Hilfe einlösen können. Oder eine sofortige finanzielle Entschädigung, die sie bei Bedarf für Unterstützung im Alter verwenden können.

Riedlingen funktioniert seit 25 Jahren. Es ist die älteste von den etwa 50 Seniorengenossenschaften Deutschlands. In den ersten drei Jahren gab es insgesamt 18 000 D-Mark vom Land Baden-Württemberg, seither hat die Genossenschaft ein kleines Imperium der Hilfe aufgebaut. 700 Freiwillige, einige Festangestellte, Auszubildende und Partner bieten Fahrdienste, Essen auf Rädern, Haushaltshilfe, Betreutes Wohnen, Betreuung in der Tagespflege und in einer Einrichtung für Demenzkranke an. Barrierefreie Wohnungen für Ältere sollen in Kürze entstehen. Und weil nur ausgebildete Personen Pflege im engen Sinn leisten dürfen, will die Genossenschaft künftig selbst ausbilden. Eine genossenschaftlich organisierte Schulungsstätte ist in Planung.

Das alles hat wenig mit Sozialromantik und unkonventioneller Ideenschmiede zu tun, sondern viel mit bundesrepublikanischem Klein-Klein. Satzungen, Normen, Vorschriften, Absurditäten des Steuersystems belasten jede Idee. Damit das Pflegeheim des Ortes Essen für die Seniorengenossenschaft bereitstellen durfte, musste es sich als lebensmittelverarbeitender Betrieb zertifizieren lassen. "Ein Aufwand ohne Ende", sagt Heimleiter Ludwig Geißinger. Doch die Mühe lohnte sich. Die Seniorengenossenschaft bekommt selbst zubereitetes Essen. Das Heim sichert durch den Vertrag mit der Genossenschaft Arbeitsplätze und den Anspruch, möglichst frisch und regional zu kochen. Davon profitieren wiederum Landwirte, Fleischer und Bäcker des Ortes, bei denen das Heim einkauft. "Man muss ja froh sein, wenn man noch Metzger im Ort hat", sagt Martin.

In der 10 000-Einwohner-Stadt gibt es vergleichsweise viele Geschäfte und Gaststätten. Die Einrichtungen der Altenhilfe liegen nah beim Zentrum. In der Mittagspause gehen einige Tagespflege-Gäste zum Wochenmarkt. Durchgefroren kommen sie zurück, an den Rollatoren hängen Beutel mit frischem Obst, das sie für jene Senioren mitgebracht haben, die nicht mehr allein einkaufen können.

Elisabeth Blaicher hält ihnen die Tür auf: "Man sieht hier, dass immer jemand hilft", sagt sie. Ein schönes Gefühl. Und doch ist es nicht so, dass der Umgang mit Pflegebedürftigkeit einen gefasster auf das eigene Alter blicken lässt. "Es macht eher Angst", sagt Maria Friedrich, während sich die demenzkranke Johanna unruhig aus ihrem Schlafsessel hochdrückt, weil sie dringend zur Kirche gehen will. Einige sanfte Berührungen beruhigen die alte Dame, ihre wimpernlosen Lider sinken herab. Das ist was am Ende zählt: Fürsorge, Dasein, Helfen, wenn Hilfe gebraucht wird.

Quid pro Quo ist nie das bestimmende Prinzip der Genossenschaft geworden. Die Schwestern Maria und Elisabeth machen vor allem deshalb mit, weil die "alten Menschen so dankbar sind." "Weil es eine rundum sinnvolle Tätigkeit ist." Sinnvoll ist ein Wort, das auch ihr Chef Martin häufig verwendet. Warum engagiert er sich seit so vielen Jahren Tag für Tag für die Seniorengenossenschaft? Martin zuckt er nüchtern mit den Achseln: "Die Anforderungen sind da, wir müssen reagieren."

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