Süddeutsche Zeitung

Alkoholismus:"Für mich gibt es keine hoffnungslosen Fälle"

Niemand spürt so deutlich, dass Alkohol eine Gesellschaftsdroge ist, wie trockene Alkoholiker. Ein Suchtexperte über die größten Rückfall-Risiken und Sätze, mit denen man Trink-Aufforderungen und lästige Fragen am besten pariert.

Von Kathrin Hollmer

Als Alkoholiker abstinent zu werden ist schwierig, es zu bleiben noch viel schwieriger - aber es ist möglich. Ralph Marggraf, Ärztlicher Direktor der LVR -Klinik Viersen (Landschaftsverband Rheinland), beschäftigt sich seit zehn Jahren mit Abhängigkeitserkrankungen und erklärt, wie es mit dem Trockenbleiben klappt.

Süddeutsche.de: Herr Marggraf, können Alkoholiker wirklich "trocken" werden?

Ralph Marggraf: Natürlich können sie das, viele schaffen es auch. Fast die Hälfte lebt noch vier Jahre nach einer stationären Langzeittherapie abstinent. Es kommt vor, dass Patienten, die jahrelang süchtig waren, irgendwann doch die Kehrtwende schaffen. Das hat mich Demut gelehrt. Für uns gibt es keine hoffnungslosen Fälle mehr. Trotzdem ist Alkoholabhängigkeit eine schwere chronische Krankheit.

Süddeutsche.de: Welches sind die gefährlichsten Situationen für einen Rückfall?

Marggraf: Wir haben die Erfahrung gemacht, dass emotional negativ belastete Situationen, Konflikte in der Partnerschaft oder am Arbeitsplatz, Stress, Ärger, Depressivität, Schlafstörungen oder Schmerzen Rückfälle auslösen. Genauso aber auch Langeweile, äußere Reize wie eine Kneipe, eine Party oder das Spirituosenregal im Supermarkt. Gefährlich können aber auch besonders positive Anlässe und Emotionen sein.

Süddeutsche.de: Inwieweit positive Anlässe?

Marggraf: Erfolgserlebnisse, Jubiläen, angenehme Zweisamkeit, Zufriedenheit, Stolz und Freude, alles, was man mit einem Glas Wein oder Sekt feiern würde. Manchmal ist es einfach der Versuch, mal wieder zu trinken, weil man sich denkt: "Vielleicht geht es ja doch gut."

Süddeutsche.de: Wie sollten sich Betroffene bei solch starkem Trinkbedürfnis verhalten?

Marggraf: Zunächst einmal ist es wichtig, dass Betroffene für sich persönlich eine Rückfallanalyse durchführen und wissen, welche Situationen für sie ein hohes oder erhöhtes Risiko bergen. In einer suchtspezifischen Therapie werden die äußeren Situationen und die inneren Emotionen, die einem Rückfall unmittelbar vorausgehen, analysiert. Dann sollte man sich Gedanken machen, wie man diesen Risiken begegnen kann.

Süddeutsche.de: Nämlich wie?

Marggraf: Situationen mit besonders hohem Risiko sollte man - wenn möglich - ganz vermeiden: die Kneipe, das Schützenfest, auf dem absehbar viel getrunken wird. Wenn man einen trinkfreudigen Freundeskreis hat, muss man sich vielleicht davon abwenden, sofern die Freunde nicht bereit sind, Rücksicht zu nehmen. Das Einkaufen ist meistens nicht zu vermeiden; hier empfehlen wir, sich einen anderen Supermarkt zu suchen und nicht dort einzukaufen, wo man zuvor vielleicht jahrelang Alkohol beschafft hat.

Süddeutsche.de: Wie verhält man sich, wenn man auf einer Geburtstagsparty oder der Firmen-Weihnachtsfeier zum Anstoßen aufgefordert wird?

Marggraf: Erst einmal hilft es, wenn man sich von jemandem begleiten lässt, der von der Alkoholproblematik weiß und im Notfall eingreift. Wenn man zum Anstoßen aufgefordert wird, stößt man am besten mit einem nicht-alkoholischen Getränk an oder lehnt dankend ab.

Süddeutsche.de: Wie soll man rechtfertigen, dass man keinen Alkohol trinkt?

Marggraf: Alkohol ist eine Gesellschaftsdroge. Wenn man nichts trinkt, stößt man immer wieder auf Unverständnis. Eine Rechtfertigung, dass man nichts trinkt, sollte aber nicht notwendig sein. Bei beharrlichen Versuchen kann man das Thema wechseln. Wir sagen unseren Patienten, dass auch Ausreden erlaubt sind - etwa, dass man Medikamente nimmt oder mit dem Auto unterwegs ist. Am besten ist es aber zu fragen, warum es ihm oder ihr nun so wichtig ist, dass man Alkohol trinkt. Fast immer ist das Thema an dieser Stelle erledigt.

Süddeutsche.de: Wie können Partner, Freunde, Familienangehörige oder Kollegen helfen?

Marggraf: Man sollte sich als Ansprechpartner und Vertrauensperson anbieten, alle abstinenzbezogenen Bemühungen unterstützen, alle suchtbezogenen Verhaltensweisen aber nicht. Man sollte seinen Partner nicht beim Chef krank melden, wenn er in Wahrheit getrunken hat und deshalb nicht zur Arbeit gehen kann. Auch für Angehörige gibt es spezielle Angebote bei den Beratungsstellen und eigene Selbsthilfegruppen.

Süddeutsche.de: Wie vermeiden es trockene Alkoholiker, aus Versehen Alkohol zu trinken?

Marggraf: Im Restaurant kann man sich nach dem Alkoholgehalt erkundigen. Falls jemand nach den Gründen fragt, kann man durchaus eine Ausrede benutzen. Beim Einkaufen im Supermarkt sollte man die Produktinformationen auf den Verpackungen lesen. Und dem behandelnden Arzt sollte man einen entsprechenden Hinweis geben, weil sich auch in Medikamenten Alkohol verstecken kann.

Süddeutsche.de: Muss oder soll man es meinem Vorgesetzten oder Kollegen sagen?

Marggraf: Man muss es weder Kollegen noch Vorgesetzten sagen. In manchen Betrieben ist es möglich, offen über solche Dinge zu sprechen, in anderen eher nicht. Wenn Betroffene in der Lage sind, so souverän mit ihrem Problem umzugehen, ist das sicherlich positiv. Es gibt aber auch ein "zu viel" an Offenheit und das Risiko, dass dann in der Nachbarschaft oder am Arbeitsplatz schlecht über den Betroffenen geredet wird.

Süddeutsche.de: Welche Tipps helfen Ihren Patienten in schwierigen Situationen noch weiter?

Marggraf: Alles, was gute Laune macht oder ablenkt: rausgehen und etwas unternehmen, Musik hören. Meine Patienten erzählen, dass ihnen ihre Partnerschaft, Freunde oder ihre Arbeit geholfen haben. Viele versuchen, Sport zu machen oder schaffen sich ein Haustier an. Bei akutem Suchtdruck berichten Betroffene, dass es ihnen hilft, wenn sie eine Flasche Sprudel auf einmal trinken. Wichtig ist auch ein Notfallplan.

Süddeutsche.de: Wie sieht so ein "Notfallplan" aus?

Marggraf: Notfallpläne sind sehr individuell. Grundsätzlich hilfreich ist ein Zettel im Portemonnaie, der die Telefonnummern von Vertrauenspersonen, Selbsthilfegruppen, einer Suchtberatungsstelle oder Klinik enthält. Außerdem können Hinweise für einen selbst darauf stehen: Was kann man tun, um es sich gut gehen zu lassen, um typische unangenehme Gefühle und klassische Suchtdruck-Symptome ertragen zu können? Bewährt hat sich auch ein "Ausrutschervertrag", in dem steht: "Ich werde mich an die Vertrauensperson wenden, wenn ich erneut Alkohol getrunken habe."

Süddeutsche.de: Ist jeder "Ausrutscher" ein Rückfall?

Marggraf: Nach einem Ausrutscher, wenn man also trotz eines Abstinenzvorsatzes erneut trinkt, verliert man nicht zwangsläufig wieder die Kontrolle. Man kann sich auch dann noch entscheiden, ob man ins alte Schema zurückfällt und weiter trinkt oder sich Hilfe sucht. Früher dachte man, dass selbst eine geringe Menge Alkohol unweigerlich dazu führt, dass jemand weiter trinkt und die Kontrolle vollkommen verliert. "Mon-Cherie-Syndrom" nannte man das. Doch die Vorstellung, dass jeder Ausrutscher gleich ein Rückfall ist, war für die Betroffenen psychologisch kontraproduktiv, weil sie ihr Verhalten als komplettes Scheitern wahrgenommen haben und gar nicht auf die Idee gekommen sind, sie könnten trotz eines Ausrutschers noch umsteuern.

Süddeutsche.de: Und wenn man doch komplett die Kontrolle verliert?

Marggraf: Wir haben die Erfahrung gemacht, dass es den Patienten hilft, wenn sie auf einen Rückfall vorbereitet sind und diesen nicht als totales Versagen werten, sondern sich sehr zügig erneut in ambulante oder stationäre Behandlung begeben. Die Frage - Rückfall ja oder nein - ist nicht der alleinige Indikator für eine erfolgreiche Therapie. Der Erfolg hängt auch davon ab, ob man mit seinem Leben, der Arbeit, den Höhen und Tiefen klarkommt. Wir vermitteln unseren Patienten, dass sie gute Chancen haben, ihre Krankheit zu bewältigen, dass es aber gleichzeitig nicht einfach ist und eben auch ein Rückfall dazugehören kann. Vor allem geben wir ihnen das Gefühl, dass sie keine Versager sind.

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