Je nach Untersuchung kommen zwischen 1,1 und 8,2 von 1000 Kindern mit FAS auf die Welt. Damit ist das Leiden deutlich häufiger als beispielsweise das Downsyndrom oder die auch als Spastik bezeichnete Zerebralparese, wird aber weitaus weniger beachtet und spielt in Lehrbüchern und der Medizinerausbildung kaum eine Rolle. "In jeder Kinderklinik gibt es Stationen, in denen Kinder von Drogenabhängigen versorgt werden", sagt Landgraf. "Für durch Alkohol geschädigte Kinder haben wir hingegen noch Nachholbedarf."
Um diesem Missstand abzuhelfen, hat die Kinderärztin und Psychologin zusammen mit Florian Heinen, dem Leiter des Sozialpädiatrischen Zentrums und der Abteilung für Entwicklungsstörungen am Haunerschen Kinderspital, im vergangenen Jahr ein Taschenbuch zum FAS herausgebracht sowie einen Leitfaden für die Kitteltasche.
Darin lässt sich schnell nachschlagen, woran die fetale Alkoholschädigung zu erkennen ist und welche Diagnostik und Betreuung zu empfehlen sind. In Schulen, Jugendämtern und Kinderkliniken wurde das Büchlein in einer Auflage von mehr als 10 000 verteilt, damit die so häufig übersehene Krankheit besser erkannt und die Kinder besser versorgt werden.
Vier Kriterien sind es, auf die bei der Diagnose besonders zu achten ist: Die Kinder bleiben deutlich im Wachstum zurück und gehören in Größe und Gewicht zu den unteren zehn Prozent ihres Jahrgangs. Am auffälligsten sind aber wohl die Merkmale im Gesicht: Das Philtrum, jene Einkerbung, die zwischen der Nase und der Mitte der Oberlippe verläuft, ist abgeflacht oder komplett verstrichen. Zudem ist die Lidspalte, also die Breite des Auges, vergleichsweise klein und die Oberlippe sehr schmal. Hinzu kommen Einschränkungen, die das Gehirn betreffen. Die Intelligenz der betroffenen Kinder ist erheblich gemindert, ihr Kopf kleiner und in Leistungstests schneiden sie schlechter ab, sei es in den Bereichen Sprache, Feinmotorik, Aufmerksamkeit, Lernen oder soziales Verhalten.
"Die Gesichtsmerkmale sind zu 100 Prozent spezifisch", sagt Florian Heinen. "Der Entwicklungsrückstand und die Auffälligkeiten im zentralen Nervensystem kommen hinzu. Die Bestätigung, dass die Mutter während der Schwangerschaft Alkohol getrunken hat, ist dann als vierte Säule der Diagnostik nicht mehr ganz so wichtig."
Den Kinderarzt ärgert es, dass in einer Gesellschaft, die Alkohol nicht nur toleriert, sondern als Mittel gegen den Stress über die Maßen schätzt, so wenig über die möglichen Folgen bekannt ist. Auch mit etlichen Vorurteilen müsse aufgeräumt werden. "Das ist kein Problem der Unterschicht, sondern Alkohol während der Schwangerschaft findet sich in allen Gesellschaftsklassen", sagt Heinen. "Die gebildete, wohlhabende 30-Jährige trinkt im Durchschnitt sogar mehr als die ungebildete, mittellose Gleichaltrige."