Pflegenotstand in Deutschland:Zu Hilfe, dringend

Pflege

Wie geht es weiter mit der Pflege in Deutschland?

(Foto: dpa)

Knapp jeder zehnte Pflegehaushalt setzt Hilfskräfte ein, die rund um die Uhr in der Wohnung leben. Meist aus Osteuropa, oft prekär angestellt. Die Politik steht vor einem massiven Dilemma.

Von Kristiana Ludwig, Görlitz/Hövelhof

Als ihre Mutter zu sterben begann, buchte die Tochter eine slowakische Personalagentur. Deshalb fuhr die Polin Danuta Lach in ein Dorf im Allgäu, in dem sie die Berge sehen und die Kuhglocken hören konnte, und hob die zitternde Mutter jede Nacht ein paar Mal aus dem Bett. Es war für beide eine Qual. Tagsüber putzte Lach die Wohnung und sprach mit dem gebrechlichen Vater. Ein tapferer Mann. Nur das Mittagessen wollte sie nicht kochen.

Sie sagte: "Nein, vormittags muss ich ausschlafen." Wenn das so sei, dann brauche sie wohl eine neue Helferin, sagte ihr die Tochter. Nach einem Monat musste Danuta Lach gehen, obwohl ihr die alte Frau langsam vertraute. "Die Familien bezahlen, die Familien entscheiden", sagt sie vier Jahre später: "Die waren in Not."

Gut jeder zehnte Pflegehaushalt in Deutschland setzt heute eine Hilfskraft ein, die mit in der Wohnung lebt - Tendenz steigend. Das ist das Ergebnis einer Studie im Auftrag der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung, die der Süddeutschen Zeitung vorliegt. In aller Regel handele es sich dabei um osteuropäische Arbeitsmigrantinnen. Für mittelständische Familien seien sie oft die einzige Lösung, um den Umzug ihres Angehörigen in ein Heim zu vermeiden.

"Hauptpflegepersonen aus bildungsfernen Schichten"

Allerdings scheine "eine den arbeitsrechtlichen Mindeststandards entsprechende Beschäftigung dieser Kräfte kaum realisierbar zu sein", schreiben die Forscher des Instituts für Sozialforschung und Sozialwirtschaft in Saarbrücken. Sie haben im vergangenen Jahr bundesweit mehr als 1000 Haushalte befragt, in denen Pflegebedürftige leben, die älter als 65 Jahre sind.

Die Wissenschaftler stellten zudem ein soziales Gefälle fest: Mehr als die Hälfte der Familien gab an, vollkommen auf professionelle Pfleger zu verzichten. Jeder fünfte Pflegebedürftige werde nur von einem einzigen Menschen versorgt. Im Schnitt benötigen Pflegebedürftige 63 Stunden Zuwendung in der Woche. Eine Beratung zu der Frage, wie viel Geld ihnen gesetzlich zusteht, erreiche "Hauptpflegepersonen aus bildungsfernen Schichten oft nicht". Stattdessen ermittelten die Forscher, dass die Familien durchschnittlich 360 Euro im Monat ausgeben, die nicht durch die Pflegekassen gedeckt sind. Gut 70 Prozent aller Pflegebedürftigen werden zurzeit zu Hause versorgt. Für die Bewohner der Pflegeheime geben die Kassen aber doppelt so viel Geld aus.

Es ist ein Dilemma: Würden die Arbeitsbedingungen der osteuropäischen Pflegerinnen und Helferinnen besser, dann würde die Pflege zu Hause auch für viele mittelständische Familien unbezahlbar - und die soziale Schere noch größer.

Die Polin Danuta Lach ist 54 Jahre alt, sie hat einen grauen Lockenkopf und arbeitet nun seit neun Jahren in Deutschland. Sie hat zwanzig verschiedene Familien betreut. Eheleute, die sie gleichzeitig pflegen sollte, zum Beispiel. Oder eine Frau, der sie die Wunden verband und deren Tochter ihr außerdem Säcke voller Schmutzwäsche in die Wohnung stellte. Zuletzt fiel ihr nach zwei Monaten auf, dass ihre Agentur die Sozialversicherung nicht bezahlt hatte, obwohl es in den Formularen so wirkte. Lachs Stimme wird laut, wenn sie darüber spricht. Sie war oft sehr wütend auf Deutschland. In ihrem Görlitzer Plattenbauzimmer hat sie ein Foto tibetischer Mönche aufgestellt, sie trägt ganz weiße Kleidung. Sie will jetzt runterkommen.

"Mindestlohn" - oft nichts weiter als Marketing

Lach hat ihren Arbeitgeber fast so häufig gewechselt wie ihre Pflegefälle. Die Stiftung Warentest recherchierte in diesem Jahr 266 Anbieter für Helferinnen, vor acht Jahren waren es erst 60. "Die Branche boomt", schreibt die Stiftung. Zwischen 1470 und 3400 Euro kostet eine Betreuerin im Monat, die in den Haushalt einzieht. Zum Vergleich: Ein professioneller 24-Stunden-Pflegedienst würde zwischen 10 000 und 18 000 Euro kosten. Deutsche Firmen kooperierten häufig mit ausländischen Unternehmen, die wiederum fragwürdige Vereinbarungen mit den Helferinnen schlössen. Bei 13 untersuchten Firmen fand die Stiftung Warentest durchgängig Arbeitsverträge, die "vor allem zulasten der Beschäftigten aus Osteuropa" gingen. Scheinselbstständigkeit oder sogenannte freie Mitarbeit - "Mindestlohn" sei oft nichts weiter als Marketing.

"Die deutschen Vermittlungsagenturen werben mit einer 24-Stunden-Pflege, obwohl sie genau wissen, dass so etwas verboten ist", sagt Sylwia Timm, die beim Deutschen Gewerkschaftsbund Arbeitsmigrantinnen berät: "Und die Familien erwarten das dann auch." Zollbeamte, die normalerweise Arbeitsstätten kontrollieren, bremst hier die "Unverletzlichkeit der Wohnung". Sie dürfen nur konkreten Hinweisen nachgehen. Wie oft dies schon passiert sei, darüber führe man keine Statistik, sagt ein Zoll-Sprecher.

"24-Stunden-Betreuung für alle"

Die SPD schreibt im aktuellen Entwurf ihres Regierungsprogramms, sie wolle eine Alternative zu den 24-Stunden-Helferinnen schaffen und staatliches Geld "an die soziale Absicherung der Beschäftigten" koppeln. Allerdings bezahlen Angehörige schon heute überwiegend privat. Die Linke fordert deshalb eine Pflege-Vollversicherung, die auch für eine legale 24-Stunden-Pflege zu Hause aufkäme. Die Grünen widersprechen. Ihre pflegepolitische Sprecherin, Elisabeth Scharfenberg, hält das Versprechen einer "24-Stunden-Betreuung für alle" nicht für richtig. Die Kosten dafür seien einfach zu hoch. Es sei wichtiger, die Menschen gut zu beraten.

Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) verweist auf seine jüngste Reform. Seit Januar gibt es "Pflegegrade" statt "Pflegestufen", die Mittel für Bedürftige wurden gerade erhöht. Auch diese reichten jedoch nicht, um Menschen mit komplexen Problemen zu Hause zu versorgen, sagt Studienautor Volker Hielscher. Sylvia Bühler aus dem Bundesvorstand der Gewerkschaft Verdi fordert deshalb "eindeutige Vorgaben" für die Helferinnen.

So wie bei Danuta Bogolanska, 42 Jahre alt. Bogolanska lebt seit vier Jahren bei einer alten Frau im ostwestfälischen Hövelhof. Die 85-Jährige liegt schon lange in einem Pflegebett, ihre Arme sind dürr, die Gesichtszüge kantig, sie isst Joghurt und trinkt Wasser. Bogolanskas Arbeitgeber ist der Sohn der Frau, hier gibt es keine Vermittlungsagentur. Stattdessen kümmert sich das Caritas-Projekt "Carifair" darum, dass Bogolanska jede Woche Besuch von professionellen Pflegern bekommt und für die Nächte eine Notrufnummer besitzt.

Jeden Mittag hat sie zwei Stunden frei, samstags und donnerstags darf sie länger ausgehen. In dem Mustervertrag, den die Caritas den Angehörigen und Helferinnen zur Verfügung stellt, stehen eine Wochenarbeitszeit von 38,5 Stunden und 36 Urlaubstage. Carifair-Koordinatorin Ursula Giester sagt, es sei kein Problem, legal in einem Haushalt zu arbeiten: "Die Frauen müssen sich ihre Pausen einfach nehmen." Danuta Bogolanska beschwert sich nicht.

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