Krebs:Der Tod, Tragödie oder Triumph?

Vogtareuth, Klinik, Simon H., Foto: Angelika Bardehle

Simon H. ist an einem Glioblastom erkrankt - und sagt: "Ich habe keine Angst vor dem Tod."

(Foto: Angelika Bardehle)

Ein unheilbarer Tumor drückt auf das Gehirn von Simon H., die Ärzte geben ihm nur noch wenig Zeit. Doch der Zwölfjährige sagt, nö, ich geh noch nicht.

Von Felix Hütten

Die Mutter lacht ja noch. Mensch Simon, jetzt verbringe ich schon die ganze Nacht an deinem Bett, und du schnarchst. Wenn ein Mensch stirbt, dann rasselt manchmal der Atem, dann klingt das wie Schnarchen. Mensch Simon, du spinnst doch.

Sauerstoffsättigung 90 Prozent. 85 Prozent. 80 Prozent. Mensch Simon.

Die Tür fliegt auf. "Weg vom Bett, Frau H., sofort, verlassen Sie das Zimmer." Die Ärzte legen Simon in Narkose. Wir geben diesem Kind den Atem wieder, sagen sie. Du gehst noch nicht, sagt die Mutter. Bitte nicht, noch nicht. Mensch Simon.

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Die Geschichte des heute zwölf Jahre alten Simon H. beginnt im Herbst 2014 auf dem Wendelstein, einem Münchner Hausberg mit Mittelstation. Erst einmal langsam anfangen, sagen die Eltern. Ich will nach ganz oben, sagt Simon. Die Geschichte von Simon ist die Geschichte eines Jungen, der keine Zeit hat für Mittelstationen. Für ihn gibt es nur oben und unten. Es ist eine Geschichte über die Frage: Der Tod, ist er eine Tragödie? Oder ist er ein Triumph?

Beim nächsten Mal, sagen die Eltern, klettern wir auf den Gipfel. Da beginnen Simons Kopfschmerzen, da beginnt sein Schwindelgefühl. Wenn du fit bist, Simon, dann wandern wir ganz nach oben. Simon ist müde, Simon schläft nicht in der Nacht, er schläft am Tag. Während seine Mitschüler Klassenarbeiten schreiben, hängt Simon über der Kloschüssel und erbricht. Was ist los, fragt die Mutter, was ist los, fragt der Kinderarzt.

Irgendwas stimmt hier nicht, die Ärzte im Krankenhaus beruhigen erst einmal, Migräne ist bei Kindern in diesem Alter häufig. Die Mutter aber, selbst Kinderkrankenschwester, besteht auf eine Magnetresonanztomografie (MRT).

November 2014

Die Mutter hilft ihrem Sohn auf die Toilette. Er ist schläfrig, so erzählt sie es heute, das ist keine Migräne, sagt sie sich und dreht den Wasserhahn zum Händewaschen auf. Simon schreit sie an, das ist alles so laut, das reicht mir jetzt, lass mich in Ruhe.

Als Simon am nächsten Tag endlich eine MRT-Untersuchung bekommt, ist eine befreundete Ärztin dabei, sie hilft Simon auf die Trage, sie beruhigt die Mutter. Als die Aufnahmen gemacht sind, kommt sie nicht mehr zurück ins Zimmer.

Wir haben etwas gefunden, sagt ein anderer Arzt. Und?, fragt die Mutter.

Sieben Zentimeter Tumorgewebe. Er sitzt am Thalamus. Als der Arzt der Mutter die Aufnahmen am Bildschirm zeigt, will sie es nicht glauben. Schön und gut, sagt sie zum Arzt, aber jetzt möchte ich bitte die Aufnahmen von meinem Kind sehen.

Simon kann nichts mehr machen, nur noch schlafen. Die Mama ist hier, flüstert sie an seinem Bett, vertraust du mir?

Es ist eine knifflige Entscheidung für die Ärzte. Der Hirndruck muss sinken, das geht mit Medikamenten, das geht mit einer Operation, feine Schläuche werden in das Gehirn gelegt. Der Tumor von Simon verlangt Platz, das Gehirnwasser kann nicht mehr abfließen, es drückt und drückt.

Und während alle hoffen, dass die Medikamente anschlagen, hört Simon auf zu atmen. Die Frühschicht hat gerade gewechselt auf der Kinderonkologischen Station im Krankenhaus München-Schwabing.

Viele der Kinder, von denen die Mutter im Internet liest, sind schnell gestorben. Hoffnungslos. "Aber ich will das nicht, sagt sie, "es muss nicht immer normal laufen." Wo sind diese paar Prozent, die länger leben, fragt die Mutter. Simon war schon immer anders, hat Menschen schon immer Freude ins Gesicht gezaubert, er hat schon immer gekämpft, gelacht, gebissen. Wendelstein, beim nächsten Mal geht's ganz nach oben.

Die Ärzte schaffen es, Simon wieder ins Leben zu holen, er schläft jetzt, aber er atmet wieder, immerhin. Schließlich wird er operiert, und während die Ärzte mit feinem Besteck in seinen Kopf vordringen - das Loch im Schädel misst 6 mal 4,5 Zentimeter - spazieren seine Eltern im Regen. "Gehen Sie raus", sagen die Ärzte. Stunden später ist klar, dass der Tumor zwar entfernt wurde, aber wer weiß, wo noch ein paar Zellen überlebt haben, das menschliche Gehirn ist eng und verwinkelt. Der Tumor kann jederzeit wieder aufblühen, man kann seine Kinder nicht vor allem beschützen, denkt die Mutter. "Was muss ich eigentlich noch alles aushalten?"

Dezember 2014

Das Tumorgewebe wird in zwei Laboren untersucht, man will sicher gehen, bloß keine Falschdiagnose. Simon liegt auf der Intensivstation, die Eltern zeigen seiner Schwester Fotos, damit sie nicht erschrickt, wenn sie ihn sieht, die ganzen Schläuche, die vielen Pumpen, noch immer kein Befund.

Die Mutter schläft jetzt kaum mehr, sie heult aus Angst vor dem Gespräch mit den Ärzten. Was, wenn es keine Hoffnung mehr gibt? "Stell dir deinen schlimmsten Albtraum vor", sagt sie heute, "das reicht nicht aus, da ist etwas in mir kaputtgegangen". Manchmal, auf der Autobahn, die Familie wohnt südöstlich von München, da denkt sie, könnte sie doch einfach das Gas durchdrücken, bis zum Anschlag, bis zum Aufprall... Sie zeigt mit der flachen Hand in den Himmel. Aber wenn Simon zurückkommen soll, dann müssen wir, seine Eltern, doch zuversichtlich sein. Geht das? "Wenn ich nur heule", sagt die Mutter, "warum sollte er dann aufwachen?"

Ärzte beginnen Gespräche über schwierige Diagnosen oft mit etwas Positivem, um die traurige Botschaft abzufedern, Frau H., die Operation lief gut bei Ihrem Sohn.

Die Labor-Ergebnisse zeigen einen bösartigen Tumor, Glioblastom WHO-Grad IV, hochaggressiv, untypisch bei Kindern, keine Chance auf Heilung. Doch das eine sind die Befunde, das andere ist die Realität: Simon blinzelt. Wir geben nicht auf, sagt die Mutter, selbst wenn die Prognose so schlecht ist. Niemals.

Wie ist das Mama, wie ist das mit dem Tod?

In Deutschland erkranken pro Jahr etwa 60 bis 80 Kinder und Jugendliche an einem hochgradig bösartigen Tumor im Zentralnervensystem, im vergangenen Jahr waren es 26 Jugendliche mit der Diagnose Glioblastom IV. Ursache? Unklar. Der Tumor entsteht, wenn Zellen des Nervenstützgewebes, die sogenannten Gliazellen, entarten. Nur weiß niemand, warum Simon Krebs hat, und nicht Peter, Antje oder Fatma. Es gibt Risikofaktoren: Rauchen, Alkohol, giftige Dämpfe - bei Erwachsenen, für Lungenkrebs, für Rachenkrebs. Aber bei Kindern? Bei einem Hirntumor?

Der Tumor hat im Gehirn einiges angerichtet, sagen die Ärzte zu Simons Mutter, aber das kindliche Gehirn strukturiert sich um, geben Sie nicht auf. Und die Mutter ist dankbar für diese Worte. Alle haben mit uns gehofft, sagt sie, die Gespräche mit den Ärzten haben mir Kraft gegeben, die Unterstützung von der Familie, von Freunden, vom Kinderhospiz München. Simon wird nach einer Therapieoptimierungsstudie behandelt, ein Mix aus Operation, Bestrahlung und Chemo. Ziel der Forschung ist es, die Überlebensrate von erkrankten Kindern zu erhöhen. Die ersten Ergebnisse zeigen, dass das funktionieren kann.

Kurz vor Weihnachten öffnet er die Augen. Der Blick ist starr. Die Mutter klatscht, Simon klatscht auf seinen Schenkeln den Rhythmus nach. Er spricht kein Wort. Daumen hoch bedeutet: Ja, das will ich. Simon hebt den Daumen meist nach oben. Er soll das Schlucken üben, erst einmal Pudding, sagen die Krankenschwestern, Simon will Brot, die Mutter gibt es ihm.

Februar 2015

Simon darf nach Hause. Die Mutter sagt: zu Hause klarkommen. Tränen fließen, beide Eltern sind beurlaubt, sie fragen sich, ob sie ihrem Sohn sagen müssen, dass er unheilbar krank ist. Das Kind anlügen? Geht nicht. Ihm alles erzählen? Ich kann das nicht.

Simon spricht jetzt wieder, langsam, aber immerhin. Aber wenn er jetzt stirbt, ist er in einem schwarzen Loch, ganz alleine, sagt die Mutter. Und Simon fragt sie plötzlich an einem Abend, wie ist das Mama, wie ist das mit dem Tod?

"Kann es sein, dass ich das alles schon mal konnte? Laufen, Schlafen, Lachen, sag doch Mama! War ich nicht mal anders? Wieso kann ich das jetzt nicht mehr? Was hab' ich denn? Warum juckt mein Kopf? Sind das Narben? Was ist in meinem Kopf?"

Er fragt seine Mutter: "Hat das einen Namen?" Die Mutter will es nicht aussprechen, und sagt es dann doch: "Du hast einen Tumor."

Simon entgegnet: "Aber an Krebs stirbt man doch, Mama?" Mensch Simon.

März 2015

Wie soll ich dir das erklären, sagt die Mutter: Wenn sie alles rausoperieren, dann liegst du da wie Wackelpudding, es ist dann so, wie wenn das Spiegelbild sich nicht mehr spiegeln will. Das will ich nicht, sagt Simon, dann sterbe ich lieber. Also gut Simon, sagt die Mutter, der Tumor soll schlafen, das ist jetzt deine Aufgabe. Du bist der Stärkere, kein Wackelpudding.

März 2017

"Ich habe keine Angst vor dem Tod", sagt er im Interview, heute, zwei Jahre später. Er weint. "Ich erzähl' gleich weiter", sagt er, "es muss ja sein."

"Also lebe ich lieber kürzer und gescheit", so sagt er das. Er beginnt Mandalas zu malen und stellt sich vor, wie ein Hund den Krebs zerbeißt, wie er ein Haus baut auf einer Wolke, es bleibt einfach stehen. Er schreibt nun Tagebuch, veröffentlicht gemeinsam mit seiner Mutter Teile daraus auf einem Blog im Internet. Die Menschen sollen lesen, wie es ihm geht, sie sollen lesen, dass das Leben weitergeht, trotz allem. Simon-Hoffnung-Leben lautet der Titel.

Wie geht's denn, Simon?, fragen Bekannte. Gut, antwortet er. Ja dann ist ja alles gut, oder?

Alle drei Monate muss er zur Kontrolle, dieser Tag ist sein Horror-Tag. Die Ärzte sagen zu den Eltern: "Wenn Sie nach der Untersuchung auf unseren Anruf warten müssen, ist das nicht unbedingt ein schlechtes Zeichen." Im Wohnzimmer klingelt das Telefon, im Display die Nummer vom Krankenhaus. Die Eltern trauen sich nicht, abzuheben. Es ist alles okay, sagen die Ärzte.

"Ich gewinne, so oder so", sagt Simon. "Entweder besiege ich den Krebs, dann ist er weg. Wenn er mich besiegt, muss auch er sterben, er ist in meinem Körper gefangen."

Diesen Sommer will Simon Urlaub machen, alleine. Elternfrei-Party, sagt er und ballt die Freudenfaust, in einem Waldcamp für Kinder mit Krebs. Die Prognose bei einem Glioblastom IV ist schlecht, manchen Kindern bleibt ein Jahr, eineinhalb Jahre, vielleicht auch zwei. Simon lebt jetzt im dritten. Aber was habe ich davon, wenn ich nur müde bin, sagt er. Die Tragödie, das ist das Wissen um seine Krankheit, die ihn zwingt, am Boden zu bleiben. Den Berg, den Wendelstein, kann Simon nicht mehr erklimmen. Der Triumph aber, das sind die Häuser auf Wolken, die er sich vorstellt. Sie trotzen der Schwerkraft da unten auf der Erde, die Wolken tragen diese Last, sie sind stark.

Und dann, als nach dem Interview die Taschentücher zerknüllt im Müll verschwinden, klemmt er unbemerkt die Bremse von seinen Rollstuhl zu, die Mutter ärgert sich, wieso hat das verdammte Ding schon wieder eine Macke. . . "Simon, hast du die Bremse rein gemacht, das gibt's doch nicht." Mensch Simon!

Sie lachen.

Sie lachen laut.

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