Infektionskrankheit:Was von Zika übrig blieb

Infektionskrankheit: Seinen winzigen Kopf kann Luiz Phillipe noch nicht heben, im Alter von 13 Monaten. Die Eltern werden mit der Versorgung des Kindes weitgehend alleingelassen.

Seinen winzigen Kopf kann Luiz Phillipe noch nicht heben, im Alter von 13 Monaten. Die Eltern werden mit der Versorgung des Kindes weitgehend alleingelassen.

(Foto: André Vieira)

Der kleine Luiz Phillipe sieht kaum etwas und muss künstlich ernährt werden. Dennoch kümmert sich - ein Jahr nach der weltweiten Zika-Hysterie - niemand um seine Familie.

Von Boris Herrmann, Rio de Janeiro

Wenn Luiz Phillipe Hunger hat, dann öffnet seine Mutter die Plastikklappe in seinem Bauch. Sie schraubt einen kleinen Schlauch an, füllt eine fein pürierte Gemüsesuppe in den Trichter am oberen Ende des Schlauches und schüttet ein halbes Glas Wasser hinterher. Luiz Phillipe heult kurz auf, als die Nahrung in seinen Magen zu fließen beginnt. Dann lässt er sich in den Arm seiner Mama fallen und schließt die Augen. Fast sieht es so aus, als würde er die Mahlzeit genießen. Der Junge ist 13 Monate alt.

Seit einem halben Jahr wird er nur noch über die Magensonde ernährt. "Am Anfang hat er ganz normal gegessen und getrunken, dann bekam er immer häufiger diese Schüttelkrämpfe", erzählt seine Mutter Pollyana de Oliveira. Mit sechs Monaten hatte ihr Sohn endgültig verlernt, zu schlucken. Das ist keine seltene Folgeerscheinung bei Kindern mit Mikrozephalie.

Seit November 2015 haben die Gesundheitsbehörden in Brasilien 2366 Fälle von angeborenem Zika-Syndrom diagnostiziert, viele davon mit schweren Schädelfehlbildungen. Kinder, die mit einem zu kleinen Kopf, einer Mikrozephalie, zur Welt kamen, mit teils schweren neurologischen Störungen. In 697 dieser Fälle war die Mutter während der Schwangerschaft definitiv mit dem Zika-Virus infiziert.

Noch sind längst nicht alle Fragen im Zusammenhang mit diesem Erreger geklärt. Doch gilt inzwischen als wissenschaftlich gesichert, dass ein Zusammenhang zwischen Zika und Mikrozephalie besteht. Und dass jenes von der Mücke Aedes aegypti übertragene Virus vor allem für Ungeborene im Mutterleib gefährlich ist.

Vielleicht ist es die Angst, dass der Kleine an seinem Speichel ersticken könnte

Pollyana de Oliveira, 28, aus der brasilianischen Kleinstadt Maricá, etwa 50 Kilometer östlich von Rio de Janeiro, war im achten Monat schwanger, als sie sich mit Zika ansteckte. Sie dachte zunächst an eine herkömmliche Erkältung: Schnupfen, Halsweh, ein bisschen Fieber. Seltsam erschienen ihr bloß die roten Punkte am ganzen Körper, die allerdings am zweiten Tag wieder verschwanden. Heute weiß sie, dass dieser Hautausschlag ein zuverlässiges Indiz für eine Zika-Infektion ist.

Damals, im November 2015, war das Virus in der brasilianischen Öffentlichkeit noch weitgehend unbekannt. Bei der letzten Ultraschalluntersuchung der hochschwangeren Pollyana de Oliveira wurden keine Besonderheiten festgestellt. Sie erfuhr erst bei der Geburt, dass ihr Sohn einen viel zu kleinen Kopf hat.

Wenige Wochen später, als sich die ersten Fotos von Neugeborenen mit winzigen Köpfen verbreiteten - darunter auch das von Luiz Phillipe - war die halbe Welt schockiert. Brasilien galt plötzlich als das Zika-Land. Genau ein Jahr ist das jetzt her. Beinahe täglich erschienen damals Statistiken darüber, wie der Erreger von Brasilien aus alle feuchtwarmen Gegenden der neuen und alten Welt eroberte.

Sozialversicherung? Arbeitslosengeld? "So was gibt es vielleicht in Deutschland"

Die Weltgesundheitsorganisation WHO erklärte den globalen Gesundheitsnotstand, Brasiliens Regierung veröffentlichte eine Art Kriegserklärung gegen Aedes aegypti, gegen ein fünf Millimeter großes Insekt. Internationale Fluggesellschaften gaben vor der Landung in Salvador, São Paulo oder Rio de Janeiro dringende Empfehlungen zum Mückenschutz. Zwischenzeitlich wurde auch darüber diskutiert, ob die Olympischen Spiele von Rio wegen Zika abgesagt werden müssten.

Das alles wirkte vielleicht ein wenig hysterisch, "aber besser so als wenn sich keiner darum kümmert", dachte sich Pollyana de Oliveira. Heute muss sie beim Gedanken an diesen Gedanken bitter lachen. Wie viele andere betroffene Mütter in Brasilien hat sie das Gefühl: "Kaum einer kümmert sich um uns."

Pollyana de Oliveira hat ihr Geld jahrelang als Türsteherin vor einer Diskothek verdient. Seit Luiz Phillipe da ist, kann sie nicht mehr arbeiten gehen. Das Kind, sagt sie, erfordere 24 Stunden Aufmerksamkeit. "Nicht jeder kann auf ihn aufpassen. Viele Leute wissen nicht, wie man die Sonde bedient. Manche haben auch Angst davor." Vielleicht ist es die Angst, dass der Kleine an seinem Speichel ersticken könnte. Vielleicht auch die Angst vor dem Ungewohnten. Der Kopf von Luiz Philippe ist nicht viel größer als eine Orange, bloß die Ohren sind so groß wie sie bei einem einjährigen Kind sein müssten, der Rest seines Körpers wächst ganz normal.

Misael José Cardoso, der Vater des Kindes, ist 22 Jahre alt. Die Eltern hatten nie eine feste Beziehung und leben getrennt. Cardoso kommt aber jeden Nachmittag zu Besuch, um ein paar Stunden auf seinen Sohn aufzupassen. Er hilft, wo er kann, sagt die Mutter. Aber für Unterhaltszahlungen bleibt kaum etwas übrig, von seinem spärlichen Lohn als Zeitarbeiter auf einer Baustelle in Maricá. An diesem Nachmittag bringt Misael José Cardoso die Nachricht mit, dass ihm gekündigt wurde. "Die Krise", sagt er. "Eine Sorge mehr", sagt Pollyana de Oliveira.

Arbeitslos zu sein, das bedeutet für die meisten Brasilianer: keinerlei Einnahmen. Schon gar nicht für Frauen wiePollyana de Oliveira, die jahrelang im informellen Sektor beschäftigt waren. Sozialversicherung? Arbeitslosengeld? "So was gibt es vielleicht in Deutschland", sagt sie.

Pollyana de Oliveira hat zwei weitere Kinder mit einem anderen Mann, einen zehnjährigen Sohn und eine vier Jahre alte Tochter. Beide sind gesund und lieben ihren Halbbruder Luiz Phillipe über alles. Zu viert leben sie in einer Sozialwohnung aus dem staatlichen Förderprogramm "Minha casa, minha vida" (Mein Haus, mein Leben). Der Wohnblock liegt am Ende einer langen Ausfahrtstraße, fernab des Stadtzentrums. Weil Pollyana de Oliveira kein Auto hat, bleibt sie mit ihrem Kleinsten meist den ganzen Tag zu Hause. Die Einrichtungsgegenstände kann man an einer Hand abzählen: Ein Sofa, ein Fernseher, ein Ventilator, ein Kinderwagen. Was sofort auffällt: Es gibt keinerlei Spielsachen. "Er kann eh noch nichts greifen", sagt Pollyana de Oliveira.

Die Mutter nennt ihren Sohn "o meu principe", meinen kleinen Prinzen. Sie sagt sich: "Er ist ein ganz normaler Junge, die Mikrozephalie ist bloß ein Detail." Er lacht wie jedes andere Kind, er weint wie jedes andere Kind. Trotzdem ist nicht zu leugnen, dass er sich nicht wie die meisten anderen Kinder entwickelt. Er kann seinen Kopf nicht heben, er sitzt noch nicht, ohne seine dicke Brille sieht er fast nichts. De Oliveira glaubt aber fest daran, dass alles nur eine Frage der Zeit ist. Er macht ja auch Fortschritte, und das feiern sie dann in der Familie wie einen Kindergeburtstag. Vor ein paar Tagen hat sich Prinz Luiz erstmals vom Bauch auf den Rücken gedreht - mit dreizehn Monaten. Da beginnen sich andere Eltern schon zu sorgen, wenn ihr Kind noch nicht läuft.

Anfang 2016, als die Bilder der Zika-Kinder die Welt erschütterten, versprach Brasiliens damalige Präsidentin Dilma Rousseff, die betroffenen Familien nicht im Stich zu lassen. Auch die neue Regierung ihres Nachfolgers Michel Temer sagte Hilfe zu. Wer ein Kind mit Mikrozephalie zur Welt gebracht hat und weniger als 220 Reais pro Monat verdient (etwa 65 Euro), dem steht laut Gesetz eine monatliche Unterstützung in Höhe des Mindestlohnes von 880 Reais (260 Euro) zu. Pollyana de Oliveira wäre demnach allemal bezugsberechtigt. Wie viel sie bislang bekommen hat? "Keinen einzigen Centavo", sagt sie.

Mit der richtigen Behandlung kann sich der Zustand der Kinder bessern

Der Antrag ist gestellt, sie wartet seit Monaten auf Antwort. Dem kleinen Luiz Philippe läuft die Zeit davon. Er bräuchte medizinische Hilfe, um Schlucken zu lernen. Er bräuchte eine regelmäßige Physiotherapie, um seinen motorischen Rückstand aufzuholen. Sitzen, greifen, den Kopf heben, "wie soll er das lernen, wenn ihm keiner hilft?", fragt die Mutter. Es gibt in Brasilien eine recht gute private Gesundheitsversorgung, allerdings nur für Leute, die sich das leisten können. Eine private Stunde Physiotherapie kostet um die 400 Reais. Pollyana de Oliveira wäre froh, wenn sie so viel im ganzen Monat hätte, um ihre Familie zu ernähren. Etwa alle sechs Wochen, wenn sie 36 Reais für die Busfahrt übrig hat, fährt sie mit Luiz Phillipe in das staatliche Institut Fernandes Figueira nach Rio.

Dort kümmert sich die Forschungsleiterin Maria Elisabeth Moreira um derzeit 216 Kleinkinder mit neurologischen Störungen, die mutmaßlich im Zusammenhang mit Zika stehen. Mikrozephalie ist nur eine, wenn auch die schlimmste Schädigung, die der Erreger am ungeborenen Fötus auslösen kann. Hinzu kommen etwa Fälle von angeborener Gelenksteife sowie Hör- und Sehschwächen. "Der Gesundheitszustand einiger Kinder verbessert sich wieder, wenn sie rechtzeitig die richtige Behandlung bekommen", sagt Elisabeth Moreira.

Sie lässt allerdings keinen Zweifel daran, dass das öffentliche Gesundheitssystem damit überfordert ist. Es war schon immer marode, aber jetzt, in der schwersten Wirtschaftskrise seit Jahrzehnten, steht es kurz vor dem Kollaps. Moreira sagt: "Es wurden Millionen für die Entwicklung von Impfstoffen und den Krieg gegen den Moskito ausgegeben. Die betroffenen Kinder aber wurden vergessen."

So ähnlich sieht das auch Patrícia Brasil von der Oswaldo Cruz Stiftung in Rio, die im vergangenen Jahr eine viel beachtete Forschungsarbeit zu den Folgeschäden von Zika im Mutterleib vorlegte. Tenor der Studie, die im New England Journal of Medicine veröffentlicht wurde: Das Virus ist nicht nur im ersten Schwangerschaftsdrittel gefährlich, sondern bis kurz vor der Entbindung. Wie auch bei Pollyana de Oliveira.

20 Prozent

der mit dem Zika-Virus infizierten Menschen leiden an grippeähnlichen Symptomen, die meisten merken fast nichts davon. Schwangere können den Erreger allerdings auf den Fötus im Mutterleib übertragen. Als Folge kommt ein Teil der Kinder mit zu kleinen Köpfen und unterentwickelten Gehirnen zur Welt. Im November 2016 hat die WHO den wegen Zika ausgerufenen globalen Gesundheitsnotstand aufgehoben. Bis dahin hatte sich das Virus in mehr als 30 Ländern ausgebreitet.

Dieselbe Wissenschaftlerin spricht aber auch von einem "fatalen internationalen Sensationalismus" im Zusammenhang mit Zika, der mit der Schlussfeier der Olympischen Spiele plötzlich zu Ende war. Brasil vermutet deshalb: "Die Leute in aller Welt sorgten sich nicht um die Kranken bei uns, sondern vor allem darum, dass das Virus nicht zu ihnen kommt." Obwohl von Anfang an klar war, dass während der Spiele im August die Ansteckungsgefahr extrem gering sein würde. Die Mücke Aedes aegypti ist in den Wintermonaten kaum aktiv. Fatal war daran, dass Brasiliens Regierung ihre Gesundheitspolitik an den olympischen Befindlichkeiten ausrichtete. An einem nationalen Aktionstag zum Ende der Karnevalssaison 2016 schickte das Verteidigungsministerium 220 000 Soldaten in die Schlacht gegen die Gelbfiebermücke. Im berühmten Sambódromo von Rio versprühte ein Bataillon in Schutzanzügen Insektengift. Eine Show, um der Welt zu zeigen, dass Brasilien durchgreift. Was das südamerikanische Land nie getan hat: So etwas wie eine Strategie im Kampf gegen die Mücke zu entwickeln, die dort seit mindestens 30 Jahren ihr Unwesen treibt.

Was zurückbleibt, sind Kinder mit zu kleinen Köpfen. Und verzweifelte Eltern

Unter all den scheußlichen Dingen, die dieses Insekt überträgt, gehört Zika im Grunde zum harmloseren Teil. Höher sind die Ansteckungszahlen von Fieberkrankheiten wie Dengue und Chikungunya, beide können tödlich enden. Zuletzt beobachteten Experten wie Patrícia Brasil einen sprunghaften Anstieg von Gelbfieber-Fällen. Mehrere Dutzend Menschen sind daran im Bundesstaat Minas Gerais im Jahr 2017 gestorben. Brasil sagt: "Ich kann im Moment gar nicht an Zika denken."

Insgesamt wurden in ganz Brasilien im zurückliegenden Jahr gut 200 000 Verdachtsfälle von Zika registriert, knapp 130 000 bestätigt. Laut der Forscherin Brasil hat es in den vergangenen sechs Monaten im Bundesstaat Rio de Janeiro keinen einzigen neuen Fall von Zika gegeben, in anderen Gegenden sei die Situation ähnlich: "Die große Epidemie ist vorbei."

Das dürfte auch einer der Gründe sein, weshalb Zika nach der vorolympischen Hysterie fast komplett aus der Lokalpresse verschwunden ist. Was zurückbleibt, sind Kinder mit zu kleinen Köpfen und einer viel zu kurzen Lebenserwartung. Und verzweifelte Eltern.

Pollyana de Oliveira sagt: "Zum Glück helfen uns Freunde, Verwandte und Nachbarn. Und Leute, die von Luiz Phillipe über Facebook erfahren haben." Menschen, die Pollyana de Oliveira noch nie gesehen hat, spenden Windeln und Milchpulver. Oder auch Geld für die nächste Magensonde des kleinen Prinzen.

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